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29.9.1995 SF 8 (Kapo Bern) Identifizierung einer unbekannten Kinderleiche (Der Fall Dennis)
29.9.1995 SF 8 (Kapo Bern) Identifizierung einer unbekannten Kinderleiche (Der Fall Dennis)
in Studiofälle 16.11.2012 15:16von bastian2410 • 1.678 Beiträge
Die spektakulärsten Studiofälle in Aktenzeichen xy
29.9.95 SF 8 (Kapo Bern)
Identifizierung einer unbekannten Kinderleiche (Der Fall Dennis)
Teil 1
Es sind die schlimmsten Augenblicke: Gewaltverbrechen an Kindern. Aber gerade dieser Fall aus der September Sendung 1995 geht besonders unter die Haut. Jedem xy- Fan ist dieses schreckliche Bild des toten Kindes bestimmt noch in Erinnerung. Das Verbrechen beherrschte monatelang die Medienberichterstattung in der Schweiz, später auch in Deutschland. Die Tat erschüttert die schweizerische Bevölkerung, die aufgrund der historischen Kriminalgeschichte sowieso sehr sensibel auf Kindstötungen reagiert. Die Angst vor einen neuen Serienmörder ist groß. Dank Aktenzeichen xy gelingt die Identifizierung der Kinderleiche und offenbart eine ganz traurige Geschichte über eine zerrütteten Familie. Die wahren Umstände der Tat konnten jedoch nie aufgeklärt werden.
Es ist Donnerstag der 28.9.1995 um 17.20 Uhr im sogenannten Unterholz, einem Waldstück in der Nähe von Bütschwil bei Schüpfen, als zwei Jäger eine schreckliche Entdeckung machen: Sie finden nur wenige Meter von einem Waldweg entfernt eine Kinderleiche und verständigen sofort die Kantonspolizei. Die Leiche ist von den Tätern nicht versteckt worden- der Fundort ist vom Waldweg leicht einsehbar. Bei der Leiche handelt es sich um einen Jungen im Alter vom 8 bis 10 Jahren mit dunkelblonden Haaren, die ? damals bei Jugendlichen sehr beliebt- zu einem Schwänzchen zusammenlaufen. Auffällig sind die etwas vorstehenden Zähne und ein Kettchen, welches der Junge bei Auffinden um den Hals trägt. Die Kapo Bern geht aufgrund der Auffindesituation von einem Gewaltverbrechen aus, schließt jedoch eine Sexualstraftat aus.
Eine Identifizierung der Leiche ist zunächst nicht möglich. Die Staatsanwaltschaft beschließt sofort eine Öffentlichkeitsfahndung, um die Identität des Jungen zu erklären. Bereits am Abend berichtet die Nachrichtensendung 10vor10 im Schweizer Fernsehen über den Leichenfund in der Nähe von Bütschwil, am nächsten Tag beherrscht der Fall die Gazetten der Print- Medien.
Bereits 27 Stunden nach Auffinden der Kinderleiche berichtet am 29.9.1995 auch Aktenzeichen xy über den Fall. Noch während der Sendung meldet sich ein Zeuge bei einer Polizeistation in München und gibt den Jungen einen Namen. Bei der unbekannten Leiche soll es sich um den 10 jährigen Dennis P. aus Bremen handeln. Dennis soll mit seinen Eltern im Juni überstürzt in die Schweiz aufgebrochen sein. Bereits zwei Wochen vor Beginn der Sommerferien war das Kind in der Schule wegen einer angeblichen Erkrankung abgemeldet worden. Familienangehörige gegenüber erklären sie, sie müssen nach Erfurt. Als die Familie sich jedoch mehrere Wochen nicht meldet und zum neuen Schuljahr Mitte August auch nicht zurückkehrt, wurden sie von Verwandten als vermisst gemeldet.
Die Identifizierung gelingt nach diesem Hinweis rasch. Anhand Familienfotos sind sich die Beamten der Kapo Bern sicher, dass es sich bei der Kinderleiche um den 10-jährigen Dennis aus Bremen handelt. Nach den Eltern und ihren Wagen- ein Ford Mondeo mit deutschen Kennzeichen- wird nun international gefahndet.
Nach den ersten Untersuchungen der Rechtsmedizin steht fest, dass Junge bereits vor dem Ablegen am dem Fundort im dem Waldstück mehrere Tage tot war und der Fundort nicht der Tatort war. Anhand der Witterungsbedingungen stellen die Mediziner auch fest, dass der 10- Jährige bereits zwei bis fünf Tage vor der Entdeckung am Fundort abgelegt wurde. Bei der Todesursache sind sich die Experten jedoch nicht sicher. Der Leichnam weist äußerlich keine Verletzungen auf. Hinweise deuten jedoch für einen Todeseintritt durch Ersticken oder Erdrosseln hin.
Nachdem der Junge identifiziert ist und nach den Eltern gefahndet wird, können die Ermittler den Weg der Familie nach ihrer Ankunft in der Schweiz rekonstruieren. Die Irrfahrt beginnt am 27. Juni in Tschiertschen im Kanton Graubünden, als die Familie mit ihrem Sohn ein Hotel bezieht. Dort reist die Familie in der Nacht vom 3. auf den 4. Juli ab. Vom 14. Juli bis zum 25. August hält sich die Familie in einem Gasthof in Siselen im Berner Seeland auf. In Belgien, Frankreich, Italien und Österreich macht die Familie ebenfalls Halt und übernachtet in Gaststätten oder campiert im Freien. Zuletzt gesehen wurde das Ehepaar am 27. September im Oberaargau, im Raum Aarwangen/Niderbipp- am darauffolgenden Tag wird die Kindsleiche gut 50 Kilometer weit entfernt in einem Wald bei Schüpfen entdeckt. Seit diesem Zeitpunkt fehlt jedoch jede Spur von den Eltern.
Am 4. Oktober nimmt der Fall Dennis eine dramatische Wendung. Von den Eltern fehlt weiterhin trotz Öffentlichkeitsfahndung jede Spur. Die Kantonspolizei Aargau errichtet nur wenige Kilometer von der schweizerisch-deutschen Grenze entfernt in der Nähe von Sulz (Kanton Aargau) aus Routinegründen eine Polizeisperre, um den Grenzverkehr zu kontrollieren. Auf der Strecke Bözen-Mönthal passiert das Unglaubliche: Ein Ehepaar in einem Ford Mondeo mit deutschen Kennzeichen rast mit hoher Geschwindigkeit in eine Panzersperre der Polizei. Beide Insassen werden schwer verletzt und müssen aus dem Wagen herausgeschnitten werden. Sowohl der Mann als auch die Frau schweben in Lebensgefahr und werden in ein Krankenhaus geflogen. Noch wissen die Beamten nicht, wer die Insassen im Wagen sind und ob der Personenwagen von der Fahrbahn abkam oder die Panzersperre absichtlich angesteuert wurde.
Eine Identifizierung gelingt jedoch schnell. Das Kennzeichen führt die Beamten zu einer Bremer Mietwagenfirma. Die Insassen des Unfallswagens sind der 58jährigen Werner P. und seine Ehefrau Claudia, die Eltern von Dennis. Die Staatsanwaltschaft Bern erlässt Haftbefehl. Weitere Ermittlungen ergeben, dass die Eltern bei ihrem Unfall Selbstmord begehen wollten. Im Wagen werden Schriftstücke gefunden, aus denen eindeutig eine Selbstmordabsicht hervorgeht. Wirtschaftliche Motive für diesen Entschluß könnten nicht ausgeschlossen werden. Der gelernte Baukaufmann Werner P. hatte sich als Angestellter und Selbständiger in mehreren Branchen versucht, im Taxigewerbe, als Reisebüroleiter und immer wieder in der Baubranche. Nie mit Erfolg, die Familie war hoch verschuldet. Wegen Steuerhinterziehung, Betrugs und Urkundenfälschung wurde er 1988 zu zwei Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, nach einem Jahr Haft wurde er entlassen. Der 58 Jährige ist in zweiter Ehe mit seiner 26 Jahren jüngeren Frau verheiratet, aus der ersten Ehe hat er bereits acht Kinder.
Es dauert 2 Wochen, bis die Eltern von Dennis vernehmungsfähig sind. Eine Verantwortung für den Tod des Knaben streiten jedoch beide in den Vernehmungen ab. Werner und Claudia P. bekräftigen zwar ihre Selbstmordabsichten, Dennis sollte jedoch nicht sterben. An einem Morgen nach einer Nacht, in der sie alle im Auto übernachtet hätten, habe der Vater plötzlich festgestellt, dass Dennis nicht mehr geatmet habe. Mehrere Suizidsversuche soll das Ehepaar unternommen haben, indem sie u.a. Gas ins Auto strömen ließen oder durch die Einnahme von Schlaftabletten. Die Versuche wurden jedoch immer wieder abgebrochen. Auch Dennis wurde in geringen Mengen Schlaftabletten verabreicht.
Nach der Genesung verbringen Claudia und Werner P. ihre Untersuchungshaft in einer psychiatrischen Klinik. Mehrere Haftentlassungsgesuche wurden abgelehnt. Die Staatsanwaltschaft Bern erhebt Ende 1996 Anklage wegen vorsätzlicher Tötung und mehrfache versuchte vorsätzliche Tötung im Rahmen gemeinsamer Selbstmordversuche. Zuständig für den Fall war zunächst das Geschworenengericht von Seeland im Kanton Bern. Mehrere Kantone in der Schweiz haben jedoch Ende 1996 diese Art der Gerichtsbesetzung abgeschafft, infolgedessen wurde das Verfahren von der Anklagbehörde an das Kreisgericht Aarberg- Büren- Erlach verwiesen. Dort wird am 18.4.1997 der Prozeß gegen das Bremer Ehepaar eröffnet. Wegen des großen Medieninteresses an den Verhandlungen tagt das Kreisgericht nicht im Gerichtsgebäude, sondern im Aarberger Rathaus.
Die Verteidigung beantragt nach der Vorlesung der Anklageschrift den Ausschluss der Öffentlichkeit. Der Zustand der Angeklagten sei äußerst vulnerabel. Sie habe Angst in großen Räumen, Angst, vor vielen Leuten zu reden, Angst vor einem Schauprozess. Das Gericht weist den Antrag ab. Öffentlichkeit des Strafprozesses sei die Regel, und für eine Ausnahme bestehe hier kein Grund. Das ärztliche Zeugnis bezüglich Einschränkung der Verhandlungsfähigkeit sei nur sehr vage und begründe diesen Antrag nicht ausreichend. Den Vorwurf eines Schauprozesses weist das Kreisgericht ebenso zurück.
Trotzdem sagen beide Angeklagten aus und erzählen von den ersten gemeinsamen Jahren. Claudia P. sei früher eine Einzelgängerin gewesen, habe sich in der Schule immer ausgeschlossen gefühlt und zwei Lehren abgebrochen. 1981 lernt sie Werner P. kennen und verliebt sich ihn. 1985 wird Dennis geboren und 1992 heiraten beide. Mitte Juni 1995 läuft das Baugeschäft ihres Mannes wieder einmal schlecht, die Angeklagte erwähnt finanzielle Schwierigkeiten, ihr Mann spricht von massiver Bedrohung durch einen Jugoslawen. Er wollte noch mal wegfahren, seinem Leben ein Ende machen wollen. Für sie sei klar gewesen, dass sich ihr Mann umbringen wolle, und sie sei bereit gewesen, ihrem Mann überallhin zu folgen - auch in den Tod. Sie habe aber die Hoffnung gehabt, dass sich vielleicht alles noch ändern würde. Dass Dennis mitkommt, war zunächst nicht geplant gewesen. Aber bei Verwandten habe man den Jungen nicht unterbringen können.
Claudia P. spricht von einer Irrfahrt durch die Belgien, Frankreich, Italien, Österreich und dann kreuz und quer durch die Schweiz- mehrere Wochen logierte die Familie in einem Gasthof im Siselen im Kanton Bern. Es habe aber auch wunderschöne Momente gegeben. Sie seien alle drei zusammen gewesen, seien spazieren und baden gegangen. Aber es gab auch die anderen Tage. Umnebelt von Schlaftabletten und Alkohol habe man dann über Suizid gesprochen und versuchte es immer wieder. Die Angeklagte beschreibt, wie sie sich die Pulsadern aufgeschnitten habe. Wie sie gemeinsam mit Mann und Kind Schlaftabletten genommen habe; Dennis habe aber nur so viele erhalten, dass er sechs Stunden geschlafen hätte. Zweimal habe man Gas aus Gasflaschen ins Auto strömen lassen, beide Male den Versuch wieder abgebrochen. Auch weil Dennis bei diesen Versuchen immer hinten im Auto lag. Und nachdem Dennis gestorben sei, habe man nur noch Bäume und Mauern gesucht, in die man hineinfahren könne.
Den Vorwurf der aktiven Tötung weist das Ehepaar jedoch auch vor Gericht zurück- Dennis sollte nicht sterben. In einer Nacht, in der sie im Auto übernachtet hätten, habe sie schlafmitteltrunken Dennis husten gehört, gemerkt, dass sich ihr Mann um Dennis gekümmert habe. Am Morgen sei Dennis tot gewesen. Tagelang hätten sie den toten Dennis im Auto mitgeführt. Sie sei gar nicht ansprechbar gewesen. Und erst als das tote Kind zu riechen begonnen habe, da habe sie wohl realisiert, dass er tot sei. Danach hätten sie Dennis im Wald bei Schüpfen hingelegt.
Auch Werner P. weist den Vorwurf der vorsätzlichen Tötung zurück. Zu seiner ersten Familie, Ehefrau und acht Kindern, hat er keinen Kontakt mehr. Wegen Steuerhinterziehung, Betrugs und Urkundenfälschung wurde er 1988 zu zwei Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt und verbüßte ein Jahr in Haft. Auch er schildert die Schweizer Reise als Aneinanderreihung von Suizidversuchen- von einer Reise, von der er nicht habe zurückkehren wollen. Mehrere Suizidversuche - meist mit Schlafmitteln - habe er gemeinsam mit seiner Frau unternommen. Mehrere Suizidversuche habe er auch allein durchgezogen, mit Unmengen von Tabletten und Whisky. Er wisse nicht, wie oft auf dieser Reise seine Frau ihn im Alkoholkoma vorgefunden habe. Aber alle Suizidversuche der Eltern scheiterten. Der einzige, der die Reise nicht überlebte, war der zehnjährige Dennis, erzählt Werner P. weinend vor Gericht. Der Gedanke, dass Dennis sterben sollte, war eigentlich nie da. Bei zwei Suizidversuchen mit Tabletten sei Dennis zugegen gewesen, beide Male habe auch Dennis ein Glas mit einer Schlaftablettenmischung erhalten. Die Dosis soll jedoch ungefährlich gewesen sein. Dann aber erzählte der gelernte Bankkaufmann vom einzig wirklichen Versuch, in den Dennis einbezogen worden sei: Auch hier hätte Dennis eigentlich nicht sterben sollen, aber die Möglichkeit, dass er sterben könnte, wurde von beiden in Kauf genommen.
Bei einem Munitionsbunker in der Gegend von Oberönz im Kanton Bern, hätten beide mit Dennis über das gemeinsame Sterben gesprochen. Dann habe er das Gedicht ?Jetzt fliegen wir gemeinsam fort? geschrieben. Er, seine Frau und auch Dennis haben dieses Gedicht dann unterschrieben. Das Gedicht wurde später von der Polizei im Wagen gefunden. Die Eltern, durch Alkohol und Tabletten benebelt, haben sich ins Auto gelegt, Dennis habe auf dem Rücksitz gelegen. Er habe dann im geschlossenen Wagen zwei Gasflaschen mit CO2-Gas geöffnet. Als die Flaschen aufgehört hätten zu zischen, habe er mit dem Feuerzeug festgestellt, dass das schwere Gas nur 10 bis 15 Zentimeter auf Bodenhöhe gestiegen sei, dann die Türen geöffnet. Körperliche Nachwirkungen bei Dennis habe der Versuch nicht gehabt, danach wollte Dennis jedoch nicht mehr ?mitfliegen?.
Am Tod seines Sohnes sei er unschuldig. In einer Nacht, als man bei Aadorf (Kanton Thurgau) im Freien im Auto campiert habe, sei er wach geworden, weil Dennis gehustet habe. Dennis sei schlecht gewesen, er sei mit ihm ins Freie gegangen, Dennis habe sich übergeben. Später sei er noch einmal aufgewacht, habe Dennis die Autotüre geöffnet, damit er sich wieder erbrechen konnte. Am Morgen dann habe er entdeckt, dass Dennis tot war, er habe in Panik Beatmungsversuche gemacht - vergeblich. Seine Frau sei zusammengebrochen, habe geweint, Dennis umarmt und habe sich von da an nur noch umbringen wollen. Die Befunde der Rechtsmedizin, wonach Dennis vor seinem Tod und auch Tage oder Wochen vorher einen längeren Sauerstoffmangel erlitten habe, könne er sich nicht erklären. Er berichtet von einem missglückten Tauchversuch von Dennis im Hallenbad Tage vor seinem Tod. Er hätte damals Dennis aus dem Wasser ziehen müssen, habe ihm auf den Brustkorb gedrückt, worauf Wasser aus dem Mund gelaufen sei. Danach sei der Junge wieder wohlauf gewesen. Nach Dennis Tod seien er und seine Frau durch die Schweiz gefahren, ein paar Tage noch mit dem toten Dennis auf dem Rücksitz. Weitere Suizidversuche seien erneut gescheitert. Dennoch sei das Rasen in die Panzersperre nach Angaben des Angeklagten unbeabsichtigt - ein Unfall - gewesen.
Ein Zeuge sagt aus, dass er am 24. September zwei wie neu aussehenden Gasflaschen im Wald bei Schüpfen gefunden habe. Ganz in der Nähe des Fundortes der Leiche von Dennis.
Am dritten Verhandlungstag steht der Bericht der Rechtsmedizin im Mittelpunkt. Die Mediziner halten es für sehr wahrscheinlich, dass Dennis eines gewaltsamen Erstickungstodes gestorben ist. Ein derartiges Ersticken sei bei einem Suizidversuch mit Kohlendioxidgas im Auto möglich. Es gibt jedoch weder für einen natürlichen noch für einen gewaltsamen Tod einen eindeutigen Befund. Aufgrund der Totenflecken sei klar, dass der Fundort der Leiche im Wald bei Schüpfen nicht der Sterbeort war. Das am 28. September 1995 aufgefundene Kind war damals schon drei Tage bis eine Woche tot. Dennis wies keine eigentlichen Verletzungen auf: Eine blutunterlaufene Stelle (mit intakter Haut) am Hinterkopf habe mit dem Tod des Knaben nichts zu tun. In der Leiche fanden sich Spuren eines Schlafmittels, eine für ein Kind zu hohe Dosis, aber keine relevante Vergiftung.
Das Kind litt nach Ansicht der Gutachter an einer Lungenentzündung, weil er vier
bis sechs Stunden vor seinem Tod aspiriert hatte. Die kleinherdige Lungenentzündung erkläre zwar das von den Eltern beschriebene Husten, nicht aber den Tod. Am Erbrochenen sei das Kind auch nicht gestorben.
Bei der Obduktion wurde jedoch abgestorbenes Gewebe am Herzen- am sogenannten Papillarmuskeln- gefunden. Das Opfer litt Tage bzw. Wochen vor seinem Tod an erheblichen
Sauerstoffmangel- dies habe mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sogar bis Bewusstlosigkeit geführt. Ein Ereignis wie der von dem Angeklagten geschilderter Vorfall im Hallenbad reiche nicht aus.
Dann geht der Rechtmediziner auf die mögliche Todesursache noch mal näher ein. Möglicher Hinweis für eine Erstickung sei die festgestellte Lungenüberblähung. Eine solche Erstickung könne durch ein Kissen oder einen Plastiksack geschehen, aber auch durch eine Vergiftung durch Kohlendioxid. Es ist möglich, dass bei einem derartigen Suizidversuch ein auf dem Rücksitz des Autos liegendes Kind stirbt, nicht aber die auf den Vordersitzen sitzenden Erwachsenen - dies passiert, wenn das schwere Gas langsam aus einer liegenden Gasflasche ausströmt und einen CO2-See in Bodennähe bildet.
Auch ein psychiatrisches Gutachten wurde angefertigt und stellt fest, dass die Angeklagten nicht geisteskrank, aber durch die zahlreichen Suizidversuchen in ihrer psychischen Gesundheit erheblich beeinträchtigt sind, auch durch die Isolation, in der Claudia und Werner P. lebten. Schon in Bremen hätten die Angeklagten kaum soziale Kontakte gehabt, sich als Familie abgekapselt von der als feindlich empfundenen Welt. Je länger die Reise gedauert habe, desto mehr sei dann die Eigendynamik der abgekapselten Gemeinschaft zum Tragen gekommen, keine äußeren Reize hätten die Stimmung von Ausweglosigkeit noch korrigieren können. Der Angeklagte habe die Suizidversuche in depressiver Grundstimmung gemacht; seine Einsicht wie auch die Fähigkeit, einsichtsgemäß zu handeln, seien mittelschwer herabgesetzt gewesen. Claudia P. habe eine abhängige Persönlichkeitsstörung mit vielen unreifen Anteilen. Sie lehne sich an ihren Mann an, der für sie alles entscheidet. Bei ihrer kindlichen Haltung sei sie nicht fähig gewesen, ihre mütterliche Verantwortung wahrzunehmen.
Re: 29.9.95 SF 8 (Kapo Bern) Identifizierung einer unbekannten Kinderleiche (Der Fall Dennis)
in Studiofälle 16.11.2012 15:31von Gelöschtes Mitglied
Super, das du für diesen Fall endlich einen Tread angelegt-dafür herzlichen Dank. Ich muß gestehen, bei diesem Fall halte ich mir immer etwas vor das Gesicht, weil ich mir das Bild von den toten Jungen nicht angucken kann. Ich habe schon einige schreckliche Bilder von unbekannten Toten bei XY gesehen, aber dieser Fall schlägt wirklich alles!!!
Nochmals vielen Dank an Bastian und darauf ein schönes
So denn, einen schönen Gruß von schildi
Re: 29.9.95 SF 8 (Kapo Bern) Identifizierung einer unbekannten Kinderleiche (Der Fall Dennis)
in Studiofälle 16.11.2012 15:54von bastian2410 • 1.678 Beiträge
29.9.95 SF 8 (Kapo Bern)
Identifizierung einer unbekannten Kinderleiche (Der Fall Dennis)
Teil 2
Die Anklage fordert in ihrem Plädoyer für die Angeklagten 9,5 Jahre bzw. für Claudia P. 4,5 Jahre Haft wegen vorsätzlicher Tötung und mehrerer Tötungsversuchen. Der 10jährige Dennis sei nach Ansicht der Staatsanwaltschaft bei einem geplanten gemeinsamen Suizidversuch mit CO2-Gas ums Leben gekommen. Der Staatsanwalt zitiert die Aussagen der Angeklagten, welche zwei derartige Suizidversuche sie auf ihrer dreimonatigen Odyssee durch die Schweiz eingestanden hatten. Ein Suizidversuch mit CO2-Gas führt laut dem rechtsmedizinischen Gutachten zu genau jenem Befund von Erstickungstod, wie er beim toten Dennis festgestellt wurde. Als weiteres Indiz wertete der Staatsanwalt die Aussage eines Zeugen, der die wie neu aussehenden Gasflaschen im Wald bei Schüpfen gefunden hatte - angeblich am 24. September 1995 und in der Nähe der Decke, unter der am 28. September der tote Dennis gefunden wurde. Die Aussagen der Eltern, sie hätten die Gasflaschen schon Wochen vorher entsorgt, das tote Kind aber erst am 25. September im Wald deponiert, seien dadurch widerlegt.
Dass Verschulden des Angeklagten Werner P. sei sehr hoch. Zu berücksichtigen sei die mittelgradige Verminderung der Zurechnungsfähigkeit durch die depressive Grundstimmung, in der sich der Angeklagte auf der Schweiz-Reise mit den zahlreichen Suizidversuchen des Ehepaars befunden habe. Eine Verurteilung müsse für den Angeklagten Werner P. auch wegen der Beseitigung der Leiche und wegen versuchter Tötung der Ehefrau durch das Rasen mit dem Auto in eine Panzersperre erfolgen. Dafür seien 9,5 Jahre tat- und schuldangemessen. Für Claudia P. fordert die Anklage 4,5 Jahre, weil bei ihr eine mittlere bis schwere Verminderung der Zurechnungsfähigkeit attestiert wurde.
Die Verteidigung fordert für Werner P. einen Teilfreispruch. Der Tod von Dennis sei für die Eltern ein totaler Schock gewesen. Das rechtsmedizinische Gutachten könne die Ursachen für Dennis Tod letztlich nicht klären, die Anklage habe hier eine einfache Erklärung für einen an sich nicht erklärbaren Tod gefunden. Die Hypothese des Staatsanwalts sei nur eine von mehreren Möglichkeiten, eine von mehreren Hypothesen. Als mögliche Ursache für das abgestorbene Gewebe am Herzen könne auch der vom Angeklagten beschriebene Tauchunfall des Knaben im Hallenbad in Betracht kommen. Geschwächt noch von diesem Beinaheertrinken, geschwächt durch die neu aufgetretene Lungenentzündung, psychisch geschwächt durch die familiäre Situation sei Dennis in der Nacht zum 21. September eines natürlichen Todes gestorben, so wie es die Eltern beschrieben hätten - ein Zusammenwirken unglücklicher Umstände. Nur eine Hypothese- es zeige aber, dass für den Tod von Dennis eine andere Erklärung möglich sei, dass die Indizienkette des Staatsanwalts lückenhaft sei und die Angeklagten vom Tötungsvorwurf - in dubio pro reo - freigesprochen werden müssten. Die Gutachten, die vor Gericht über Suizidsversuche mit CO2-Gas vorgetragen wurden, seien unrealistisch. Im Fall der zugestandenen drei Kollektivsuizidversuche mit Dennis habe sich Werner P. des versuchten Totschlags schuldig gemacht. Die privilegierte Form des Totschlags sei gegeben, weil der Angeklagte unter großer seelischer Belastung gestanden habe. Freizusprechen sei P. vom Vorwurf der versuchten Tötung seiner Frau, diese habe bei den Suizidversuchen aus freiem Willen mitgewirkt und das Rasen in die Panzersperre sei ein Unfall, nicht ein Suizidversuch gewesen. Wegen des versuchten Totschlags fordert der Verteidiger für seinen Mandanten eine milde Gefängnisstrafe.
Für Claudia P. fordert die Verteidigung Freispruch vom Vorwurf der Tötungsversuche: bei den Kollektiv-Suizidversuchen habe sie keine Tathandlungen begangen. Sie sei somit einzig wegen Beseitigung einer Leiche schuldig zu sprechen und zu einer Geldstrafe zu verurteilen. Für die Untersuchungshaft von über 560 Tagen sei der Angeklagten eine Entschädigungs- und Genugtuungsleistung zu zahlen. Beide Angeklagten seien sofort aus der U- Haft zu entlassen.
Am 25. April 1997 spricht das Aarberger Kreisgericht das Urteil: Der Angeklagte Werner P. muß wegen mehrfacher versuchter vorsätzlicher Tötung im Fall der gescheiterten Kollektivsuizidversuche 4 Jahre in Haft, seine Frau erhält eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren. Vom Vorwurf der vorsätzlichen Tötung an Dennis werden die Angeklagten freigesprochen.
Für das Kreisgericht Aarberg-Büren-Erlach ist klar, dass das Ehepaar P. auf ihrer Irrfahrt durch die Schweiz nicht nur sich selbst zu töten versuchte, sondern auch Dennis in ihre Suizidversuche miteinbezogen und mit ihrem Sohn auch über das Sterben gesprochen zu haben. Drei Kollektiv-Suizidversuche mit Dennis hält das Gericht nach Würdigung der in vielen Teilen widersprüchlichen und kontroversen Aussagen der Eheleute für erwiesen. In Tschiertschen und in der Nähe von Siselen hatten die Eltern versucht, durch aus Gasflaschen ausströmendes Kohlendioxid im Auto zu sterben. Für diese Versuche sind beide Angeklagten schuldig zu sprechen.
Werner P. wird zusätzlich der versuchten vorsätzlich Tötung schuldig gesprochen, als er Dennis bei einem weiteren Selbstmordversuch in einem Hotel in Siselen ein Glas mit rund 20 Schlaftabletten verabreicht hatte. Zudem wertet das Gericht das Hineinrasen mit dem Auto in eine Panzersperre am 4. Oktober 1995, bei dem das Ehepaar schwer verletzt wurde, als weiteren Suizidversuch. Ein Unfall sei bei dieser Vorgeschichte abwegig. Werner P. ist daher auch einer weiteren versuchten Tötung an seiner Frau Claudia schuldig.
Einen Freispruch - im Zweifel für die Angeschuldigten - gibt es hingegen beim Hauptvorwurf, dem Vorwurf, die Eltern hätten Dennis im Rahmen eines weiteren Mitnahmeselbstmords vorsätzlich getötet. Die Aussagen von Werner P. über die Todesnacht seien widersprüchlich und decken sich nicht mit den rechtsmedizinischen Erkenntnissen. Einiges spreche für die These der Anklage, wonach Dennis bei einem weiteren Kollektivsuizidversuch mit CO2-Gas gestorben sei. Laut der Rechtsmedizin sei ein Tod durch gewaltsames Ersticken sehr wahrscheinlich und ein solches Ersticken bei einem Suizidversuch mit CO2-Gas möglich. Für bewiesen hielt das Gericht diese These aber nicht. Weitere Hypothesen seien zwar nicht naheliegend, aber doch denkbar. Für die These der Anklage spreche, dass an Kohlendioxid niemand im Schlaf ersticke, wenn er nicht schwer betäubt sei. Bei Dennis sei das jedoch nicht der Fall gewesen. Und Ersticken an Kohlendioxid ist gemäß dem Rechtsmediziner ein schmerz- und angstvoller Tod. Für die Kammer bleiben somit Zweifel, die sich nicht unterdrücken lassen.
Im Fall der erwiesenen Tötungsversuche gehe das Gericht von einem großen Verschulden des Bremer Ehepaars aus. Die Eltern hätten die Gesundheit und das Leben ihres eigenen zehnjährigen Sohnes aufs Spiel gesetzt. Sie hätten das Kind auch immer wieder psychisch überfordert, indem sie es vor die Entscheidung stellten, ohne Eltern weiterzuleben oder mit den Eltern zu sterben. Unverständlich sei, warum Werner P. auf der Flucht vor seinen Problemen Frau und Kind miteinbezogen hat. Claudia P. habe in nicht nachvollziehbarer Weise ihre Angst vor einem Leben ohne Ehemann über die Interessen des Kindes gestellt.
Bei Werner P. liege jedoch eine mittlere Verminderung der Zurechnungsfähigkeit vor, bei seiner Frau sogar eine schwere Verminderung. Beide Angeklagten geben das Bild von zwei leidenden Menschen, die sich stark aufeinander beziehen in einer feindlichen Welt: Die Familie lebte in Bremen in einer Art selbstgewählten Isolation. Soziale Kontakte pflegte Werner P. kaum. Das Blabla über Fußball, TV und Bier interessierte ihn nicht. Die Freizeit verbringt er lieber mit der Familie, in der Natur. Mitte Juni 1995 kulminieren die Probleme des beruflich schon mehrfach gescheiterten Werner P.; sein Baugeschäft hatte finanzielle Schwierigkeiten, von einem Schwarzarbeiter will er massiv bedroht worden sein. Er fiel in eine schwere Depression, seine Gedanken drehten sich nur noch um Suizid.
Auch Claudia lebte ein zurückgezogenes Leben, außer ihrem Mann und ihrem Sohn gab es für sie, die sich schon als Kind stets ausgeschlossen gefühlt hatte, keine Bezugspersonen. Sie wollte ihrem Mann überall hinfolgen, sogar in den Tod. Dennis schließlich hatte ebenfalls schwer gehabt mit anderen Kindern, er sei von ihnen zurückgestoßen worden, habe bald gemerkt, dass die Kinder nicht wegen ihm, sondern nur wegen des großen Spielgeländes ums Haus zu ihm kommen.
Die Haftstrafen seien somit im Sinne der Anklage tat- und schuldangemessen. Claudia P. sei aus der Haft zu entlassen, da sie bereits zwei Drittel der verhängten Strafe verbüßt hat.
Sowohl Verteidigung als die Anklage legen Appellation (in Deutschland vergleichbar mit Revision) bei Obergericht ein. Die Staatsanwaltschaft wehrt sich vor allem gegen den Freispruch der beiden Angeklagten wegen vorsätzlicher Tötung zum Nachteil ihres Sohnes. Später reduziert die Anklage jedoch die Appellation und akzeptiert den Freispruch beider Eheleute vom Vorwurf der vorsätzlichen Tötung und das Urteil gegen Claudia P. Die Strafhöhe gegen Werner P. aus der ersten Instanz wird jedoch weiter angefochten.
4 Tage nach dem Urteil wird Claudia P. durch die Fremdenpolizei mangels Aufenthaltsbewilligung und wegen ihrer Verurteilung nach Deutschland „ausgeschafft“ (Fachjargon für Abschiebung). Zudem wird ein Einreiseverbot verhängt. Nach ihrer Abschiebung lebt Claudia P. in einer Obdachlosenunterkunft in Deutschland und hat keinen festen Wohnsitz.
Im September 1997 wird vor dem Obergericht der Appellationsprozess eröffnet. In der Verhandlung beantragt der Staatsanwalt überraschend einen Freispruch für Werner P. bzgl. der versuchten Tötung der Ehefrau. Claudia P. habe aus dem Leben scheiden wollen, weshalb keine versuchten Tötungen, sondern gescheiterte Doppelselbstmorde vorlägen. Trotzdem fordert die Anklage vor dem Appellationsgericht eine höhere Strafe gegen P. als die Vorinstanz, nämlich 5 Jahre. In drei Fällen habe P. seinen Sohn zu töten versucht - ein selbstherrliches und eigenmächtiges Verfügen über fremdes Leben. In einem Fall sei Dennis nur knapp dem Tod entronnen, denn beim einen Gassuizidversuch sei laut Rechtsmediziner die Herzmuskulatur des Knaben geschädigt worden. Die Anklage wirft den Eltern vor, sie hätten Dennis erhebliches psychisches Leiden zugemutet: Die Reise mit den Suizidversuchen und der morbiden Grundstimmung müsse als grausame Behandlung gelten. In Berücksichtigung der herabgesetzten Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund dessen narzisstischer Persönlichkeitsstörung und dessen Depressionen hält die Anklage eine Strafe von fünf Jahren Zuchthaus für angemessen.
Der Anwalt von Werner P. verlangt die Verurteilung P. zu einer milden Gefängnisstrafe. Die Kollektivsuizidversuche mit Dennis seien nicht als versuchte Tötung, sondern als milder zu bestrafenden versuchten Totschlag zu qualifizieren, da P. unter großer seelischer Belastung gehandelt habe.
Die Anwälte von Claudia P. fordern dagegen einen Freispruch. Frau P. habe sich auf der tragischen Reise in einem psychischen und physischen Ausnahmezustand befunden. Die von ihrem Mann völlig abhängige Frau sei gar nicht fähig gewesen, die objektive Garantenstellung gegenüber ihrem Sohn wahrzunehmen und diesen aus den Suizidversuchen herauszuhalten.
Am 5. September bestätigt die zweite Strafkammer des Berner Obergerichts die Strafmaße aus der ersten Instanz. Als erwiesen erachtet die Kammer, dass der Vater im Rahmen eines erweiterten Suizidversuchs- ohne Wissen seiner Ehefrau- Dennis ein Getränk mit 20 Schlaftabletten gereicht hatte – eine 40fache Überdosierung. Als erwiesen betrachtet die Kammer auch, dass Werner und Claudia P. zweimal versucht hatten, sich und Dennis mit aus Gasflaschen ausströmendem CO2-Gas im geschlossenen Auto zu töten.
Anders als die auf Freispruch plädierende Verteidigung sieht die Kammer Claudia P. als Mittäterin an. Es habe sich um eine von beiden Eheleuten gemeinsam beschlossene und geplante Tat gehandelt. P. habe Dennis vorher auf das gemeinsame Sterben vorbereitet, sie habe die Türen im Auto verriegelt; auch sie habe aktiv gehandelt und Tatherrschaft innegehabt.
Freigesprochen wurde Werner P. vom Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung seiner Ehefrau gegenüber. Sie habe bei den gescheiterten gemeinsamen Suizidversuchen ihren Tod gewollt und bezüglich ihrer Selbsttötung stets die volle Tatherrschaft gehabt.
Trotz der Freisprüche hält das Appellationsgericht die verhängten Strafen von 4 Jahren für Werner P. und zwei Jahre für Claudia P. aus der Vorinstanz für schuldangemessen. Das Verschulden Werner P. wiege schwer, dasjenige von seiner Frau weniger schwer, aber sicher nicht leicht. P. habe aus egoistischen Motiven gehandelt, auf der Flucht vor seinen selbstverschuldeten wirtschaftlichen und seinen persönlichen Problemen habe er sich umbringen und seine Frau und sein Kind in den Tod mitnehmen wollen. Frau P. sei zwar von ihrem Mann in krankhafter Weise abhängig, sie habe aber ihre Verantwortung als Mutter missachtet. Die Kammer berücksichtigt ebenso wie die Vorinstanz die psychiatrischen
Gutachten. Die Gutachten seien nach Ansicht der Richter nachvollziehbar, erschienen doch die Persönlichkeiten der Angeschuldigten als stark gestört.
Keine weiteren Konsequenzen hat die Abschiebung von Claudia P. zur Folge. Die Anwälte der Bremerin hatten nach der Abschiebung und eine aufsichtsrechtliche Anzeige gegen die Fremdenpolizei eingereicht. Ohne Vorwarnung sei P. in aller Frühe abgeholt, in Ausschaffungshaft (übersetzt: Abschiebehaft) gesetzt und kurz nach Mittag den deutschen Behörden übergeben worden. Das Vorgehen sei unverhältnismäßig gewesen, weil Frau P. keine Gefahr für die Allgemeinheit dargestellt habe. Zudem habe man den Bewährungshelfern keine Chance gelassen, für die suizidgefährdete Frau einen Therapieplatz zu finden. Nach Ansicht der kantonalen Polizei- und Militärdirektion haben sich die Vorwürfe als unbegründet erwiesen. Es seien weder Menschenrechte verletzt worden, noch könne von widerrechtlicher Ausschaffungshaft die Rede sein.
Werner P. sitzt seine Haftstrafe in Strafanstalt Thorberg im Kanton Bern ab. Im September 1998 wird der Bremer aus der Haft entlassen, die Reststrafe wird zur Bewährung ausgesetzt. Auch er muss danach die Schweiz ebenfalls verlassen.
Kleiner Exkurs zum Strafrecht in der Schweiz:
Die Freiheitsstrafen wurden als Zuchthausstrafen ausgesprochen. Die Schweiz hatte diese Art der Bestrafung erst Ende 2006 abgeschafft. Mit der historischen Definition hat die damalige Zuchthausstrafe aber auch in der Schweiz seit den 70ern nichts mehr gleich. Die Zuchthausstrafe unterscheidet sich in der Anwendung nicht mehr von der gewöhnlichen Gefängnisstrafe, sondern nur in deren Länge. Ich habe auf die Bezeichnung „Zuchthaus“ verzichtet.
Das Geschworenengericht wurde kurz vor Prozeßbeginn im Kanton Bern abgeschafft. Endgültig abgeschafft wurde diese Art der Gerichtsbesetzung in der ganzen Schweiz zum 1.1.2011. Insgesamt 9 normale Bürger wurden ausgewählt und entschieden zusammen mit zwei Berufsrichtern über die Schuld und das Strafmaß. Jeder Entscheidungsträger hatte eine Stimme- die Mehrheit entscheidet. Hier liegt der Unterschied zum angelsächsischen Recht. Hier entscheidet die sogenannte Jury alleine über die Schuld des Angeklagten, der Richter legt das Strafmaß fest- diese Art der Urteilsfindung ist bekannt in den USA und England. In Deutschland wurden Geschworenengerichte bereits 1924 abgeschafft.
Das Strafrecht in der Schweiz kennt drei Arten von Tötungsdelikten: Mord, vorsätzliche Tötung und den privilegierten Totschlag in den Artikel 111-113 StGB. Die schwerste Form der Tötung ist der Mord (Art. 112 StGB). Das Tatbestandsmerkmal Mord ist ähnlich definiert wie in Deutschland und ist kennzeichnet durch ein besonders verwerfliches Motiv bzw. durch die besonders verwerfliche Art der Ausführung. Tötungen zur Verdeckung bzw. zur Ermöglichen einer Straftat, Sexualtötungen, gemeingefährliche Tötungen und das Merkmal Grausam sind als Mordmerkmale in der Schweiz (wie in Deutschland) anerkannt. Nur das Mordmerkmal Heimtücke kennt das schweizerische Strafrecht nicht. Die Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit eines Opfers wird in der Schweiz nicht als Mord qualifiziert. Nicht unwichtig in diesem Fall. Das Verabreichen von Schlaftabletten an ein Kind wäre in Deutschland wohl als Mord (bzw. Mordversuch) eingestuft worden. Der Strafrahmen bei Mord reicht von 10 Jahren bis lebenslang. Meistens werden jedoch zeitige Freiheitsstrafen ausgesprochen, im Schnitt zwischen 15- 20 Jahren.
Die vorsätzliche Tötung (Art 112 StGB) ist vergleichbar mit dem deutschen Tatbestand des Totschlags. Die vorsätzliche Tötung wird in der Schweiz mit Freiheitsstrafe von 5 bis 20 Jahren bestraft. (Deutschland 5- 15 Jahren) Hier liegen keine Mordmerkmale vor.
Der privilegierte Totschlag ist vergleichbar mit dem Totschlag in einen minderschweren Fall. Der Strafrahmen für dieses Delikt in der Schweiz beträgt 1 bis 10 Jahren. Dieser Tatbestand berücksichtigt sogenannte Affekttötungen- also Taten, die nach den Umständen entschuldbaren heftigen Gemütsbewegung oder unter großer seelischer Belastung erfolgen.
Der größte Unterschied im Bereich der Tötungsdelikte sind die Verjährungsfristen: Mord verjährt in der Schweiz nach 30 Jahren, der Totschlag schon nach 15 Jahren. In Deutschland wurde die Verjährung 1979 für Mord aufgehoben. Es hält sich das Gerücht, dass der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt und die gesamte Regierung von der US- Serie „Holocaust“ (ua mit Meryl Streep in der Hauptrolle) aus dem Jahre 1978 sehr beeindruckt waren und die durch diesen Film ausgelöste Diskussion über die nationalsozialistische Vergangenheit in der Politik und in der Bevölkerung ursächlich für die Gesetzesänderung war.
(Orts- und Zeitangaben entsprechen dem wirklichen Fall. Täternamen wurden verfremdet, sprich es handelt sich um Alternativnamen)
Das nächste Mal wieder ein Filmfall: Einer der legendärsten in der Ära Zimmermann und einer der am besten umgesetzten Filmfälle. Die Hintergründe der Tat ziehen mir auch heute noch- fast 30 Jahre nach dem Verbrechen- die Schuhe aus. Was haben wir nicht schon alles erlebt in über 40 Jahren Aktenzeichen xy. Wir haben gestaunt, mit den Opfern gelitten, uns über die Täter geärgert, aber auch mal gelacht. Diese Geschichte ist jedoch unglaublich: Morgens wird die Schulbank gedrückt und Mathe gepaukt- mittags werden in einen Hochhauskomplex die Freier empfangen. Der letzte Freier war jedoch ein Mörder.
Mord am Europakanal- von der Schülerin zur Prostituierten- das Doppelleben der Sylvia Sch.
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