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05.10.1984 SF5 (Kripo Bielefeld) Fahndung nach Bankräuber/Geiselnehmer Lothar H. (auch: 10.5.1985 SF5, Kripo Neumünster, und 18.7.1986 SF5, Kripo Frankfurt)

in Studiofälle 17.12.2010 12:53
von xyzuschauerseit72 • 1.079 Beiträge
Über diesen Fall schrieb Bastian im Thread zum Projekt Studiofall-Netakte:

Gelöst: wird gefaßt in Bremerhaven(Sendung 02/87), ist ein alter Bekannter in xy, nach ihm wird noch mehrmals gefahndet 05/85; 07/86

Die Rheinische Post hat den Mann jetzt im Gefängnis besucht und ihn aus seinem Leben erzählen lassen:


Lebenslang hinter Gittern

VON DOROTHEE KRINGS (TEXT) UND ANDREAS KREBS (FOTOS) - zuletzt aktualisiert: 17.12.2010 - 02:30

Mit Zöllnern und Sündern hat Jesus sich an einen Tisch gesetzt. Als man ihn dafür kritisierte, erwiderte er: "Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten." Käme er heute zurück in diese Welt, würde Jesus die frohe Botschaft vielleicht auch an diesen Ort bringen: ins Gefängnis.

Manchmal, wenn die Enge zu beklemmend wird, schiebt Lothar H. den Stuhl ans Fenster und steigt hinauf. Dann kann er über die Mauer schauen, die Baumwipfel betrachten, bis er den Wind spürt, der in die Äste greift. Und er kann bis zum Horizont blicken, wo der Himmel auf schwere niederrheinische Äcker trifft. "Ich habe hier gelernt, solche Momente zu genießen", sagt Lothar H., "das ist meine Freiheit."
Die andere Freiheit, eine, die ihm erlauben würde, einfach hinauszulaufen auf die Felder, hat Lothar H. verloren. Wahrscheinlich für immer. Er hat Banken überfallen. Immer wieder. Ist dafür erst ein paar Jahre ins Gefängnis gekommen, nach den Wiederholungstaten länger. Und jetzt gehört er zu den Häftlingen der JVA Geldern mit Sicherungsverwahrung. Das heißt, wenn er seine Strafe abgesessen hat, wird er weiter im Gefängnis bleiben müssen, weil er als Gefahr für die Allgemeinheit gilt.

Lothar H. ist 61 Jahre alt. Er versucht, nicht über die kommenden Jahre nachzudenken. Er hat sich das zur Aufgabe gemacht. "Früher haben für mich nur Vergangenheit und Zukunft gezählt", sagt er, "das war wie ein Gedankenkarussell, das sich in meinem Kopf gedreht hat." Im Gefängnis hat das Karussell angehalten. Er hat begriffen, dass er keinen Einfluss mehr auf seine Zukunft hat, dass jeder Gedanke daran vergeblich ist. Seitdem zählt nur noch die Gegenwart.

Doch auch die dreht sich im Gefängnis im Kreis. Die Zeit hat sich dort verfangen in den endlosen Wiederholungen der immer gleichen Tage. Bei Lothar H. klingelt jeden Morgen um Viertel nach fünf der Wecker. Er macht dann eine halbe Stunde Yoga. Gegen sein Rheuma und gegen die innere Unruhe, die ihn sonst befällt. Um sechs gibt es Frühstück auf die Zelle. Zwanzig Minuten später gehen die 60 Gefangenen von seinem Flur zur Arbeit. Ausrücken nennt man das hier. Lothar H. hat einen guten Job erwischt. Er betreut die Häftlings-Bibliothek, sammelt morgens ausgeliehene Bücher ein, bringt nachmittags die neuen Bestellungen in die Trakte. Wenn er so zwischen den Buchregalen steht, ein stiller Mann mit kahlem Kopf, großer Brille, gerader Haltung, könnte man ihn für einen Mönch halten. Mit einem schmalen Holzkarren fährt er die Bücher die langen Flure entlang – Lothar H. kommt rum. Die Anstaltsleitung vertraut ihm. Und er weiß das zu schätzen. "Meinen Mithäftlingen ist klar, dass man mich für Botendienste gar nicht erst ansprechen muss. Ich trag hier nichts rum."

Der Mann aus der Bibliothek ist ein Einzelgänger. Er ist dazu geworden. Mit fünf schoben ihn die Eltern zu den Großeltern ab, weil der Stiefvater ihn nicht bei sich haben wollte. So wuchs er in einem Forsthaus im Schwarzwald auf. Der Großvater war Unteroffizier in beiden Weltkriegen. "Der war gerecht", sagt Lothar H., "und er hat mich für das Militär begeistert." Doch als der Junge zwölf wurde, starb der Großvater. Zwei Jahre später lief Lothar H. von zu Hause fort, machte mit einem Freund die ersten Einbrüche. Er wurde geschnappt, Erziehungsheim, wieder Einbrüche, acht Monate Jugendknast. Da war er vorbestraft und der Traum von der Bundeswehr zerplatzt.

"Ich wollte aber unbedingt Soldat werden wie der Großvater", sagt Lothar H. Also ging er zur Fremdenlegion, diente in dem französischen Heer auf Madagaskar, wurde verschüttet, hatte Albträume, Angstzustände, erzählte niemandem davon. "In der Fremdenlegion lernt man, seine Gefühle zu verleugnen", sagt er. Nach drei Jahren desertierte er. In seiner Zelle findet sich kein Andenken an diese Zeit. Er hat nichts aufbewahrt. "Nur die schlechten Erinnerungen", sagt er.

Nachmittags um fünf haben die Häftlinge aus Block D Freigang. Sie dürfen dann in einen Innenhof mit Tischtennisplatte, Blumenbeet und Flutlichtern an meterhohen Masten. Lothar H. läuft dort allein im Kreis. Freundschaften, so ist seine Erfahrung, gibt es unter Häftlingen nicht. Aber man kann sich raushalten. "Die anderen wissen, dass ich im Hof Ruhe haben will", sagt er, "sonst hört man die Vögel nicht von jenseits der Mauer oder bemerkt nicht, dass die Luft schon nach Winter riecht." Solche Dinge sind dem Lothar H. von früher nicht aufgefallen, dem Typen mit der Halbglatze, dessen Fahndungsfotos immer wieder im Fernsehen zu sehen waren. Bei "Aktenzeichen XY" moderierte ihn Eduard Zimmermann als den Mann an, den "die Zuschauer inzwischen wohl kennen dürften". Das war Mitte der 80er Jahre, als er nach einem seiner Banküberfälle mal drei Jahre auf der Flucht war. Er lebte nur in Hotels, gab Geld "für leichte Damen" aus, hatte sonst keine Kontakte. "Eigentlich war ich erleichtert, als sie mich geschnappt haben", sagt Lothar H.

In den ersten Jahren seiner Haft hatte er immer diesen Traum. Er liegt in einem Hotelzimmer, aus der Decke rieselt Sand, er kann sich nicht rühren. Wenn der Sand in seinen Mund fällt, wacht er auf.

Die Zelle von Lothar H. ist 8,5 Quadratmeter groß. Am Eingang Toilette, Waschbecken, ein Schrank, vor dem Fenster links das Bett, rechts ein Tisch. Lothar H. hat sich Stillleben aus Zeitschriften an die Wand geklebt, Obstkörbe, Blumensträuße. An der Tür hängen Postkarten aus fernen Ländern. "Die haben mir Leute aus der Scheideweg-Gruppe geschickt", sagt Lothar H., "die haben im Urlaub dran gedacht." Scheideweg ist eine christliche Gruppe aus Hückeswagen. Alle zwei Wochen kommen Mitglieder in die JVA Geldern, singen Lieder mit den Gefangenen, hören ihnen zu. Georg Fischer zum Beispiel. Er kennt "den freundlichen" Lothar H. seit Jahren. "Wir denken, dass die christliche Botschaft den Menschen hilft, neue Orientierung zu finden", sagt Fischer. Fragt man Lothar H., wem er vertraut, überlegt er lange. Dann sagt er: "Den Leuten von Scheideweg." Er erzählt sogar, dass die Gruppe Wohngruppen für Entlassene betreut. Dass er da unterkommen könnte, nicht wieder rückfällig werden würde, weil er dort in einer Struktur leben, Hilfe von Therapeuten bekommen könnte. "Früher war ich ja zu stolz, solche Hilfe anzunehmen", sagt er. "Ich war zu verblendet." Dann hebt er die Schultern. Schweigt.

Die Gefängnisleitung hat Lothar H. erlaubt, ein eigenes Schloss außen an seiner Zellentür anzubringen. Eine kleine Bügelschließe, wie sie an Kellertüren hängen. Wenn die Beamten ihn wegschließen, darf er erst selbst dieses kleine Schloss öffnen. Und wenn er die Hand in die Tasche seiner Häftlingshose steckt, spürt er einen Schlüssel.

Der Staat hat Lothar H. eine zweite Chance gegeben. Vor sieben Jahren entließ man ihn in die Freiheit. Die Experten trauten ihm ein Leben ohne Überfälle zu. Lothar H. fand in Köln eine Wohnung und Arbeit als Nachtportier. Eine Zeitlang ging es gut. Dann verlor er den Job, seine Mutter starb, er versank in Depressionen. Dann stand seine jüngste Stiefschwester vor der Tür, drogenabhängig, mittellos. Als Lothar H. beschreibt, wie die Drogen den Körper seiner Schwester zerfressen hatten, steigen Tränen in seine Augen. Helfen wollte er der Schwester, doch sie brauchte immer mehr Geld. Da hat er es wieder getan. Ist in eine Bank gegangen, hat einem Angestellten eine Waffe vor den Kopf gehalten, Geld erpresst. Und als man ihn diesmal fasste, bekam er zur Strafe die zweite Sicherungsverwahrung. Damals hat er aufgehört, an die Zukunft zu denken.

Doch zum ersten Mal dachte er über seine Schuld nach. "Vorher habe ich immer gesagt, dass die Bank ja versichert ist, ich also niemandem schade. Körperlich habe ich ja nie jemanden verletzt." Doch nach seiner letzten Verhaftung bekam er Angstattacken in engen Räumen. Und so begann er, mit einem Psychologen zu sprechen. "Ich weiß jetzt, dass ich Menschen seelisch verletzt habe, dass sie vielleicht auch Angstattacken plagen, weil ich ihnen die Waffe vorgehalten habe", sagt er. "Ich habe gelernt, meine Schuld einzugestehen, ich weiß um meine dunkle Seite und kann sie betrachten." Er folgt jetzt den Meditationsregeln des Zen Buddhismus. Ein Ölbild mit den verschlungenen Kreishälften von Yin und Yang hängt über seinem Bett. Religion hat in seinem Leben nie eine Rolle gespielt. Jetzt hält er Wiedergeburt für möglich. "Vielleicht wacht man wieder auf." Er glaubt jetzt an die zweite Chance.

Lothar H. steht auf der Schwelle zu seiner Zelle, als er das sagt. Wie ein Hausherr. Dann treibt ihn der Justizbeamte in die Zelle zurück. Schließt die Tür. Dreht den Schlüssel.

Quelle: http://nachrichten.rp-online.de/kultur/lebenslang-hinter-gittern-1.312239
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Re: 05.10.1984 SF5 (Kripo Bielefeld) Fahndung nach Bankräuber/Geiselnehmer Lothar H. (auch: 10.5.1985 SF5, Kripo Neumünster, und 18.7.1986 SF5, Kripo Frankfurt)

in Studiofälle 17.12.2010 21:38
von bd-vogel • 570 Beiträge
Sehr interessanter Artikel - vielen Dank für den Link!

(Die beiden späteren XY-Fahndungen von 1985 und 1986 hab ich in der Fallübersicht auch auf diesen Thread hier verlinkt - lustigerweise war es dreimal jeweils der 5.Studiofall der Sendung).

Bernhard.
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