Hierzu ein Bericht des Donaukuriers über einen Phantombildzeichner, der auch bei XY im Einsatz war:31.08.2010 20:03 Uhr
Der Mann der tausend Gesichter
München (DK) Wenn Mike Bartek mit der U-Bahn fährt, dann kann er manchmal einfach nicht anders. Plötzlich starrt er einem anderen Fahrgast ins Gesicht. Er analysiert seine Augen, begutachtet seine Nase und studiert seine Mundpartie.
Dann stellt er sich vor, wie er den oder die wohl jetzt beschreiben würde. Diese Musterung ist nicht etwa ein Hobby, um sich die Fahrzeit zu vertreiben – sein enormes Interesse an außergewöhnlichen Gesichtern ist rein beruflicher Natur. Der 61-Jährige ist seit über 30 Jahren Phantombildzeichner beim Landeskriminalamt (LKA) in München.
Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, in seinem Büro, das sich Bartek noch mit zwei Kollegen teilt, würden Computerspiele programmiert oder die neuesten Kinostreifen mit Special Effects versehen. Auf jedem Schreibtisch stehen gleich mehrere riesige Flachbildschirme. An den Wänden hängen Filmplakate von "Ice Age", "Tomb Raider" und "Avatar". Viele Pflanzen sorgen für eine angenehme Atmosphäre, zwischendrin lugen immer wieder Stofftiere für Kinder hervor. "Es soll einfach nicht so steril sein”, erklärt Bartek. Denn viele der Zeugen, die hier im sechsten Stock des LKA-Gebäudes in der Maillingerstraße einen Täter beschreiben sollen, haben Schlimmes gesehen. Nur bei schweren Verbrechen wird ein Phantombild angefertigt: bei Raubüberfällen, bei Vergewaltigungen, bei Morden. Deswegen sollen sich die "Gäste" hier oben wohlfühlen.
"Es ist nicht so, wie man es aus den Krimiserien im Fernsehen kennt”, das ist immer das erste was Bartek sagt, wenn er seine Arbeit erklären soll – obwohl er selbst fünf Jahre lang für die Sendung "Aktenzeichen XY” Phantombilder zur Ausstrahlung aufbereitete. Denn die eigentliche Erstellung des Phantombildes am Computer ist nur ein Teil der Arbeit. "Das kann eigentlich jeder."
In erster Linie sei er als Psychologe gefragt, sagt Bartek. Wenn ein Zeuge zur Tür hereinkommt, dann setzt er sich mit ihm nicht gleich an den PC und legt los. Der LKA-Experte bietet Kaffee an und man nimmt zu einer Art Vorgespräch an einem runden Tisch Platz. Für Bartek beginnt jetzt seine Arbeit, ohne dass sein Gegenüber überhaupt etwas davon mitbekommt. Er muss herauskriegen, was das für ein Typ ist, der da aussagt. "Ein Türsteher nimmt in einer brenzligen Situation Dinge anders wahr als eine Hausfrau", weiß der Fachmann.
Obwohl es zunächst sehr merkwürdig klingt – auch das Aussehen des Zeugen sei wichtig, erklärt der 61-Jährige. Habe beispielsweise jemand eine sehr große Nase, dann müsse man seine Aussagen bezüglich dieser Gesichtspartie genauer hinterfragen. "Dem fällt das nicht mehr auf, dass er eine riesige Nase hat", sagt Bartek. "Der sieht die jeden Tag im Spiegel."
Bartek vergleicht auch die Größe des Zeugen mit der des Täters. Weil man sich, wie er erklärt, immer nur an Gesichter erinnern könne, die man auf Augenhöhe gesehen hat. "Wenn eine Frau mit 1,60 Meter einen 1,90 Meter großen Gangster beschreiben soll, haben wir ein Problem”, sagt der Experte. Denn mit dem Blickwinkel änderten sich auch die Proportionen des Gesichts.
Auch bei den Geschlechtern gebe es Unterschiede: Während sich seiner Erfahrung nach Männer besser komplette Gesichter merken könnten, seien Frauen in der Lage, sich besondere Details sehr gut einzuprägen, beispielsweise der Lippen oder der Augen.
Hat sich Bartek ein Bild von seinem Zeugen gemacht, dann geht es hinüber an den Computer. Doch bevor er zum Zeichentablett greift, muss er sich noch als "Dolmetscher" betätigen. Denn kaum ein Mensch kann den Täter adäquat beschreiben. Sagt einer: "Der hatte unangenehme Augen", dann bietet ihm der Mann vom LKA beispielsweise eng oder weit auseinander stehende Augen an, weil viele Menschen das als unangenehm empfinden. Es könne aber auch vorkommen, dass jemand sagt: "Wissen’s der hat so blöd g’schaut", erzählt Bartek. "Und dann muss man eben wissen, wie man einen Täter blöd schauen lässt." Seine Aufgabe sei es, den Eindruck des Zeugen zu analysieren und ihn weiter zu transportieren. "Ein Phantombild soll kein Porträt sein", das betont Bartek immer wieder. "Es ist eine Typisierung."
Gelernt hat Bartek einmal den Beruf des Mediengestalters. 1965 entschloss er sich dann zur Polizei zu gehen. Dort war er zunächst als Personenschützer in Guatemala und im Libanon eingesetzt, später kümmerte er sich um die Sicherheit der Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt. Ganz genau weiß er es nicht mehr, aber so um 1980 müsse es gewesen sein, dass er zum LKA kam, weil ein Nachfolger für den Phantombildzeichner gesucht wurde, der kurz vor der Pensionierung stand. Computer hatte man damals noch nicht im Einsatz, er lernte den Beruf, für den es keine offizielle Ausbildung gibt, noch mit Bleistift und Papier.
Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Inzwischen hat die Technik auch bei der Polizei Einzug gehalten. Wenn Bartek dann am Rechner sitzt und demonstriert, wie er ein Phantombild erstellt, merkt man, dass er seinen Beruf nicht nur mag. Er liebt ihn. Seine Hand huscht mit der Maus über den Schreibtisch und Stück für Stück entsteht am Bildschirm das Gesicht eines Täters. Er wählt aus Hunderten Vorlagen Kopfform, Haare, Augen, Mund und Nase. Er ändert mit wenigen Mausklicks Proportionen, fügt Schatten hinzu. Manchmal greift er manuell ein und zeichnet beispielsweise mittels Grafiktablett mit ein paar gekonnten Schwüngen dem Täter eine gebrochene Nase. "Die moderne Technik ist auf jeden Fall eine Erleichterung”, sagt Bartek, weil man am Bildschirm schneller und einfacher etwas zeigen könne. Doch die Arbeit sei im Grunde immer die gleiche geblieben.
Meist dauert die Erstellung des Phantombilds gemeinsam mit dem Zeugen um die zwei Stunden, doch in besonderen Fällen kann es auch langwierig sein und bis zu acht Stunden dauern. Die Erfolgsquote der Phantombilder liegt im Schnitt bei gut 20 Prozent. "Das Beste was wir einmal in einem Jahr erreicht haben, waren 33 Prozent”, sagt Bartek.
Manche Fälle werden ihm sein Leben lang in Erinnerung bleiben. Zum Beispiel der eines Boutiquenräubers: "Der sah genau aus, wie dieser Typ auf der Zeitschrift ,Mad’." Doch die Zeitungen druckten das Phantombild leider viel zu klein, die Sommersprossen waren wegen des Druckrasters gar nicht mehr zu sehen. "Das war doch das Einzige, woran man den erkennen konnte." Über diese Sache kann er immer noch nur den Kopf schütteln.
Und dann gab es noch diesen Ganoven, der sein Phantombild so toll fand, dass er den Zeitungsausschnitt immer im Geldbeutel mit sich herum trug. Dummerweise ließ er das Portemonnaie an der Kasse einer Tankstelle liegen. Als der Mitarbeiter die Brieftasche öffnete, um nachzusehen wem sie gehört, flatterte ihm das Phantombild entgegen. Der Mann alarmierte die Polizei und schon als der Verbrecher seine Haustüre aufsperren wollte, klickten die Handschellen.
Alles in allem schätzt Bartek, dass er in seinem Leben schon rund 10 000 Phantombilder gezeichnet hat – die zu Übungszwecken mitgerechnet. Der 61-Jährige hat auch schon mit Chirurgen zusammengearbeitet, um sich von Experten zeigen zu lassen, welche Muskelgruppen zu welcher Mimik führen. Heutzutage könnte man die Phantombilder übrigens auch aus echten Fotos zusammen setzen. Doch man verzichtet bewusst darauf, weil eine Zeichnung mehr Spielraum für Interpretationen lässt. Wie bei einem Foto hat ein Täter übrigens auch die Rechte an seinem Phantombild.
Drei Jahre will Bartek noch weitermachen, dann soll Schluss sein. Doch ganz loslassen wird jemanden wie ihn sein Beruf wohl nie. Zumindest nicht in der U-Bahn.
Von Sebastian Peterhans
Quelle: http://www.donaukurier.de/nachrichten/bayern/nopay-Der-Mann-der-tausend-Gesichter;art155371,2316906