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Aus der XY-Gefriertruhe: Filmfall-Review 3 - XY-Sendung vom 10. Dezember 1971 (BAHNDAMM-SCHREIE)

in Filmfälle 13.02.2008 22:33
von Tatort • 24 Beiträge
Oft gab es bei XY Fälle, in denen sich das Opfer extrem leichtsinnig verhielt und so die Tat begünstigte. (Der Schlüssel unter der Fußmatte aus 6/87 ist dabei für mich ein rekordverdächtig krasses Beispiel!) Neben der unfreiwilligen Nebenwirkung, dass man als Zuschauer geneigt ist zu sagen: „Selber schuld“, hatten und haben solche Fälle den Vorteil, dass es für Kriminologen nicht all zu schwer ist, nützliche Vorbeugetipps zu geben. Im ersten Filmfall der Dezembersendung 1971, für den die Kripo Bremen zuständig war, sah das alles ein wenig anders aus: Das Opfer, ein 17-jähriges Mädchen, war eher ein vorsichtiger und zurückhaltender Typ, und man kann eigentlich an keiner Stelle den Vorwurf des tatbegünstigenden Leichtsinns erheben. Auch trampte das Opfer nie – was nun, Ede? Aber der Reihe nach…

DER FALL:
Am Samstag, dem 1. Mai 1971 entsteigt kurz nach 19 Uhr die 17-jährige Schuhverkäuferin Carmen K. aus Bremen-Vegesack einem Nahverkehrszug, der sie in den Bremer Vorort Oslebshausen gebracht hat. (Diese silbergrauen Bundesbahn-Nahverkehrszug-Waggons mit den roten Kunstledersitzen kennt wahrscheinlich jeder noch, bis vor ein paar Jahren waren sie ja noch in Betrieb…) In Oslebshausen will Carmen das Jugendlokal „Miramichi“ besuchen, denn wie viele junge Leute tanzt sie gern und begeistert sich für Beat- und Popmusik (daran hat sich ja bis heute im Prinzip nicht viel geändert, nur dass die Beats krasser und fetter geworden sind ;-)) Als Carmen im „Miramichi“ ankommt, legt ein netter DJ gerade „Hot Love“ von T-Rex auf. Wolfgang betont, dass das spätere Opfer gerade gegenüber unbekannten Männern als zurückhaltend gilt und gelegentlich sogar mit anderen Mädchen tanzt, damit von den Kerlen auch ja keiner auf dumme (Bagger)gedanken kommt. Und da sie im „Miramichi“ lediglich Musik hören und tanzen will, sucht sie auch an den Tischen keine Gesellschaft, sondern hält sich lieber beim DJ auf, der ihr Vertrauen, vielleicht sogar ihre Sympathie genießt. (Tja, geneigt muss man eben sein, dann werden selbst die unnahbarsten Bräute handzahm - ist nur so eine These, die in diesem konkreten Fall natürlich nicht zwangsläufig stimmen muss…;-)) Jedenfalls erfüllt der geneigte oder auch nicht-geneigte DJ Carmen gerne den Wunsch nach George Harrison´s „My Sweet Lord“, und Carmen spendiert einem dunkelhaarigen Mädchen freigiebig einen Krebsstengel. Warum sie später allerdings mitten bei „Brown Sugar“ das Lokal verlässt, will in meinen Kopf nicht rein. Na ja, vielleicht lag´s auch gar nicht an einer etwaigen Rolling-Stones-Antipathie, sondern einfach an der Uhrzeit. Selbige in Erfahrung zu bringen erweist sich für Carmen als etwas umständlich: Mit einem Fingerzeig aufs Handgelenk bittet sie ihren DJ um eine entsprechende Auskunft, selbiger ruft ihr die Uhrzeit zu, kommt aber mit seinem zarten Stimmchen nicht gegen Mick Jagger an. Also nimmt sich unser DJ sein Ansagemikro zur Hilfe: „Und nun auf vielfachen Wunsch eine Zeitansage: Es ist ganz genau elf Uhr.“ (Ob man diesen diskreten DJ wohl auch nach dem Weg zum Klo fragen möchte…?) Nach der erhellenden Info macht sich das spätere Opfer gegen 23 Uhr 10 auf den Weg zum Oslebshausener Bahnhof, von wo aus ihr Zug um 23 Uhr 26 nach Bremen-Vegesack fährt. Gegen Mitternacht gedenkt sie in der elterlichen Wohnung anzukommen.
Pünktlich um 23 Uhr 20 verlässt der Vorortzug, mit dem Carmen fahren will, den Bremer Hbf. Unter den Fahrgästen befindet sich auch der Druckereiarbeiter Gerhard Nitze, der auf dem Heimweg in den Vorort St. Magnus ist.
Mit dem Kameraschwenk auf den düsteren, nachts nicht besetzten Oslebshausener Bahnhof setzt die geniale Celloduo-Spannungsmusik ein, und es folgt die wohl unheimlichste Szene im Film. Ein in der Nähe wohnendes Ehepaar wird um 23 Uhr 24 durch verzweifelte Hilferufe aus dem Schlaf gerissen, genauer gesagt wird zunächst die Frau wach und weckt mit dramatisch-angsterfülltem Blick ihren Mann. Als der Zug um 23 Uhr 26 in Oslebshausen einfährt, steht Carmen K. nicht auf dem Bahnsteig. Kurz zuvor muss sie auf ihren Mörder gestoßen sein, was auch durch eine Beobachtung des bereits erwähnten Fahrgastes Gerhard Nitze untermauert wird: Als er während des kurzen Aufenthaltes in Oslebshausen zufällig aus dem Fenster sieht beobachtet er, wie am Bahndamm zwei Menschen miteinander ringen. „Er ahnt nicht, dass dort ein 17-jähriges Mädchen verzweifelt mit seinem Mörder kämpft.“ (Nun übertreib mal nicht, Wolfgang! Zumindest in etwa hat unser Zeuge die Situation durchaus begriffen…) Gerhard Nitze und ein weiterer Mitreisender alarmieren sofort den etwas bräsigen Schaffner: „Sie, wir müssen sofort halten. Da ist was los, da ist eben eine Frau überfallen worden, in Oslebshausen am Bahndamm!“ „Waaas, wooo, am Baaahndamm?“ (Nein du Blitzmerker, wir haben dich bloß verarscht! In Wirklichkeit ist sie hinter dem Getränkemarkt überfallen worden, aber das konnten wir von hier aus halt nicht sehen…) Der Schaffner jedenfalls erklärt, dass es keinen Sinn habe, jetzt auf freier Strecke zu halten, verspricht aber, beim nächsten Halt sofort die Polizei zu verständigen. Die hat bereits einen Anruf des bereits erwähnten Ehepaares erhalten und bekommt nun zusätzlich eine vage Beschreibung des Täters: Dunkles Haar, dunkle Jacke, weißer Rollkragenpulli. In der Nähe des Bahnhofes in Oslebshausen beobachtet ein Ehepaar einen aus Richtung Bahndamm kommenden Mann, der bei ihrem Anblick sofort losrennt und auf den die Beschreibung passt, welche die Polizei vom Täter erhalten hat.
Am nächsten Morgen betritt der besorgte Vater von Carmen K. das „Miramichi“ und fragt die (etwas zickige) Putzfrau, ob sie etwas vom Verbleib seiner Tochter wisse. Trotz Foto kann sie ihm jedoch nicht weiterhelfen. So erstattet er am Abend schließlich Vermisstenanzeige.
Ach ja, Papa K. arbeitet übrigens beim zivilen Bevölkerungsschutz, und drum hat er in seinem Dienstjeep auch ein UKW-Gerät mit Polizeifunk. Normalerweise sind für ihn nur jene Meldungen von Belang, die Einsätze der Feuerwehr betreffen. Als er jedoch acht Tage nach dem Aufgeben der Vermisstenanzeige mit dem Fahrzeug unterwegs ist, trifft ihn eine Polizeimessage wie ein Keulenschlag: Auf der Suche nach zwei flüchtigen Strafgefangenen haben Justizvollzugsbeamte und Polizisten in einem Morastgelände in der Nähe des Oslebshausener Bahnhofs Carmens Leiche entdeckt. Während der Vater verzweifelt hinter dem Lenkrad zusammensackt und die Kamera langsam vom Fahrzeug wegzoomt, setzt das Schifferklavier ein (übrigens der früheste mir bekannte Einsatz dieses Themas!) und die Szene blendet zum Leichenfund über – eine ebenso gelungene wie bedrückende Szene! Und noch eine weitere Besonderheit fällt hier auf: Normalerweise ist ja eine solche Leichenfund-mit-Schifferklavier-Szene das klassische Filmfall-Ending. Unser Film endet aber damit noch keineswegs, vielmehr wird geschildert, wie die Bremer Kripo unerwarteterweise auf eine neue Spur stößt.
Es beginnt damit, dass eine Spaziergängerin (deren Hund bis heute nicht namentlich ermittelt werden konnte und von dem es daher auch leider kein Foto in der Küchenhunde-Rubrik gibt ;-)) in dem bereits erwähnten Sumpfgelände eine mysteriöse Beobachtung macht: ein Mann in einem blauen VW-Bulli interessiert sich auffällig für eine ganz bestimmte Stelle und entfernt sich danach mit seinem Fahrzeug. Zunächst glaubt die Spaziergängerin, der Mann habe sich nur verfahren. Dann aber fährt er noch mal zurück und interessiert sich wieder angestrengt für – genau jene Stelle, an der Tage zuvor das tote Mädchen gefunden worden war! Allerdings führt dieser Hinweis die Kripo nicht weiter, und sie beginnt im Sommer 1971 quasi noch mal von vorn mit den Ermittlungen. Alle Personen im Umkreis des Tatortes werden noch einmal befragt, unter anderem auch unser netter DJ aus dem „Miramichi“ (wollte er die Kripobeamten vielleicht so schnell wie möglich loswerden und hat deshalb Middle Of The Road gespielt? Who knows…). In einer Gaststätte schließlich stoßen die Beamten dann auf eine unerwartete neue Spur: Die Wirtin erzählt von einem Mann, der am Abend des 1. Mai kurz nach dem etwaigen Tatzeitpunkt bei ihr war und ihr erzählt hat, dass er einen blauen VW-Bus fahre. Seinen Schlüsselbund habe er dagelassen, da er bereits ordentlich einen im Schlappen hatte. Beschreibung: etwa 30 Jahre alt, 1, 80 m groß, Goldrandbrille mit getönten Gläsern, dunkler Anzug mit weißem Rollkragenpulli – any more questions?
Mit den Aussagen der Wirtin endet der Film, und der Schlüsselbund sowie das Phantombild des Mannes werden zum wichtigsten Fahndungsansatz für Ede und den Bremer Staatsanwalt.

DÉJÀ VU:
Das zigarettenschnorrende Mädel im „Miramichi“ wurde im November 1970 im ersten Filmfall als Mordopfer von einer Autobahnbrücke geschmissen. Die aus dem Schlaf gerissene Zeugin mit den unverwechselbaren Angstaugen wurde im März 1970 in einer primitiven Ex-Flakunterstand-Behelfswohnung ebenfalls aus dem Schlaf gerissen und ebenso wie ihr Mann erschossen – wenn ich da nichts verwechsle.

FAZIT:
Der Filmfall ist in jeder Hinsicht als herausragend zu bezeichnen. Die Kampfszene am Bahndamm ist eine der unheimlichsten der Schwarzweiß-Ära. Der Handlungsaufbau ist geschickt erfolgt, was sich nicht zuletzt auch darin zeigt, dass es Kurt Grimm gelungen ist, nach dem Überschreiten des Spannungs-Höhepunktes (Leichenfund) Kripoarbeit zu zeigen, ohne damit den Film zu veröden. Im Fall „Hertasee“ 1977 ist das beispielsweise m. E. nicht so sehr gelungen (viel zu sehr gedehnte Brillen-Recherche!). Die Besetzung ist bis auf wenige Ausnahmen ganz OK (beim Schaffner war dann wohl die Kohle ausgegangen…), insbesondere die von den Schreien wach werdende Zeugin trägt vor allem mimisch mit dazu bei, dass dem Zuschauer ein kalter Schauer über den Rücken läuft. Zwei der meiner Meinung nach besten Spannungsmusiken aller Zeiten runden das Produkt gut eingesetzt ab. Wenn man sich Filmfälle der XY-Kinderschuh-60er ansieht, die teilweise nicht mehr als eine nüchterne Schilderung der Polizeiarbeit waren, erscheint es beeindruckend, wie viel Kurt Grimm und Co. in nur wenigen Jahren gelernt zu haben scheinen. Ohne plumpes Gesülze (Hallo Eisprinz…!), sondern vor allem mit der Macht der Bilder und Szenenschnitte bringt Kurt Grimm hier unter anderem auch das zum Ausdruck, was Ede oft ansprach und was dem Weißen Ring sicher auch viele Fördermitglieder verschaffte: Welch tiefe Wunden ein Kapitalverbrechen der gezeigten Art bei den Angehörigen des Opfers reißt und sie automatisch zu Mit-Opfern macht.
Die drei Netakten-Sterne sind wohlverdient! :-)
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