Eigentlich ist die Grundsatzdiskussion, die sich hier gerade entwickelt, gar nicht so schlecht, wenn es uns gelingt, Persönliches und Aggressives herauszuschrauben. Ich fange gleich mal an, indem ich etwas Persönliches schreibe

: Der Literaturwissenschaftler Jochen Vogt hat den ARD-Tatort als den wahren deutschen Gesellschaftsroman bezeichnet (nachzulesen in dem 2004 von ihm selbst herausgegebenen Sammelband "MedienMorde - Krimis intermedial", S. 111-129). Meiner Meinung nach gilt diese Einschätzung in noch größerem Maß für Aktenzeichen XY, und für mich macht das den bedeutendsten Teil der Faszination der Sendung aus. In den besten Momenten wird gesellschaftliche Wirklichkeit künstlerisch gestaltet und damit ein Einblick in prototypische soziale Milieus gewährt - von der Mitte bis zu den Rändern der Gesellschaft und gelegentlich darüber hinaus: Handwerker, Beamte, Arbeiter, Muttis Mittags- und Tantchens Kaffeetische, Geschäftsleute, Prostitution von Elend bis High End, Obdachlose, Alkoholiker, hermetische Milieus, ländliche Idyllen, großstädtische Normalitäten und großstädtische Sümpfe und immer so weiter.
All das geben die Kriminalfälle von sich aus her, und Aufgabe der Regie ist neben der Betonung der kriminalistisch relevanten Details auch die künstlerische Umsetzung des Sozialhistorischen, wofür Mordfälle tendenziell mehr anbieten als Raubüberfälle auf Banken und Juweliere. Insofern bleibt mit dem relativen Rückgang der Mordfälle seit 2008, als die Sendung auf 90 Minuten verlängert wurde, leider auch die Gesellschaftsroman-Komponente ein wenig auf der Strecke. Allerdings gibt es auch Beispiele aus neuerer Zeit, die der Sendung eine Bedeutung über den Moment hinaus verleihen, über Fahndung, Ermittlung, Vorbeugung (und Unterhaltung) hinaus, nämlich eine Bedeutung in Richtung (verzeiht mir das große Wort)
Erkenntnis. Ich denke an den Geflügelgroßhändler und Hotelier Klaus K. (3.11.2010 - FF 1), die einsame, in familiäre Streitigkeiten verwickelte Arbeitslose Nicole S. (8.12.2010 - FF 1) und die drogenabhängige Gelegenheitsprostituierte Monika P. (15.9.2010 - FF 1), genauso aber auch an den falschen Revisor (23.3.2011 - FF 1) und den angeblich Versicherungs-Ware verkaufenden Betrüger "Max" mit seinem Hund "Babe" (13.4.2011 - FF 2). Das Bewusstsein der Regie, auch diesen Auftrag zu haben, ist ein Anspruch, den ich an die Sendung stelle, und wie man an den Beispielen sieht, finde ich ihn in den aktuellen Sendungen gelegentlich immer noch erfüllt - und solange das so ist, stellt Abschalten auch keine Alternative dar, obwohl er von häufig flachen Inszenierungen nicht erfüllt wird.