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09.09.1977 FF 1 (Kripo Mainz) Mord an Sylvia Lauterbach

in Filmfälle 09.05.2020 04:47
von Metropolis 1971 • 70 Beiträge

Artikel aus Die Zeit - Verbrechen Nr. 4 Herbst/Winter 2019/2020 über den Mörder von Sylvia Lauterbach und eine Bekannte des Täters.

Claudia Baumgart (Name geändert!) sitzt in ihrer großen Wohnküche und erinnert sich an einen jungen Mann. Vierzig Jahre ist es her, dass sie zusammen studierten - doch die Erinnerung an den Kommilitonen hat sie nie wieder losgelassen, bis heute nicht. Der Student hatte eine kleine Wohnung in Mainz. Heute noch, sagt sie, schiebe sich eine dunkle Wolke über ihre Seele, jedes Mal, wenn sie nach Mainz hineinfahre. „Nein“, sagt sie, „verarbeitet habe ich die Sache wohl immer noch nicht.“
Claudia Baumgart hat Kaffee gekocht, Kuchen gibt es auch. Sie sei ein bisschen nervös, sagt sie. Von dem Kommilitonen zu sprechen fällt ihr nicht leicht. Sie mochte ihn nämlich gerne, sie kann es nicht anders sagen. Freundlich war er, und vor allem ein leidenschaftlicher Student. Sie studierten beide Anglistik und Deutsch für's Lehramt. Bernd stürzte sich mit unglaublicher Begeisterung auf die Texte, er war sehr klug. Sie macht eine Pause. ,Er war, glaube ich, der Beste von uns. Das hat mich beeindruckt. Er hat mir gefallen, ja, ganz sicher. Ich mochte ihn sehr.“
Sie waren eine Clique, und Bernd gehörte dazu. Die Studenten gingen abends aus, verbrachten ihre Freizeit miteinander. Vielleicht wirkte Bernd manchmal ein klein wenig ungepflegt, als lebte er so tief in der hehren Welt der Literatur, dass es ihm auf Außenwirkung und Körperpflege gar nicht mehr ankam. So erklärte sich Frau Baumgart das damals, und anderen Studentinnen ging es ähnlich. Der etwas linkisch und verschlossen wirkende Bernd weckte bei Frauen damals gewisse Rettungsinstinkte. Und irgendwann setzte ein regelrechter Wettbewerb zwischen den Studentinnen ein: Wer findet den Schlüssel zum genialen, zurückhaltenden, geheimnisvollen Bernd?
Einmal war Claudia Baumgart sogar bei Bernd zu Hause in seiner kleinen Mainzer Wohnung. Sie weiß noch gut, dass sie die Hoffnung hegte, man könnte sich vielleicht näher kommen, und es passiert was«. Es passiert was. Allein der Gedanke jagt ihr heute kalte Schauer den Rücken hinunter. Gott sei Dank ist an jenem Tag nichts passiert, denn später stellte sich heraus, daß Bernd ein paar Monate vor Baumgarts Besuch, am 28. Marz 1977, bei ihm zu Hause die Studentin Sylvia L. ermordet hatte. Er hatte ihr mit dem Auto aufgelauert, sie mit einem. Hammer und einem Schraubenzieher erschlagen und erstochen und sich an der Leiche sexuell vergangen. Der Mord wurde erst Jahre später aufgeklärt.
An diesem Nachmittag aber hatte Bernd-Kaffee gekocht.
Der Kaffee war okay. Aber Bernd war alles andere okay. Er schwitzte schrecklich. Zitterte er auch, wie es andere Frauen später schilderten, die mit ihm allein waren? Baumgart weiß es nicht mehr. Nur noch das: „Die ganze Situation war schrecklich, furchtbar verklemmt. Ich dachte, nee, der ist nichts für mich. Das wird mir zu anstrengend.“ Eine andere Freundin aus der Clique berichtete der Polizei später, sie habe sich bei einem Treffen in seiner Wohnung plötzlich ausgezogen und in sein Bett gelegt, auf diese sehr direkt Weise
hoffte sie den scheuen Bernd herumzukriegen. Doch mit dieser Maßnahme erreichte sie das Gegenteil. Bernd bekam einen Anfall von Übelkeit und verkroch sich im Bad.
„Für mich“, sagt Claudia Baumgart in ihrer Küche in einem Städtchen irgendwo am Rhein, „war die Schwärmerei nach der Begegnung mit Bernd zu Ende.“ Immer wieder muss sie heute daran denken, wie nahe sie damals an einer möglichen Katasrrophe vorbeigeschrammt ist. Ist es dieser Schreck, der sie den Studenten Bernd nie mehr vergessen ließ? Oder ist es die zertrümmerte Gewissheit, dass man Menschen einschätzen, verstehen, durchschauen könnte?
Nach solchen Erlebnissen bekommt die Welt wohl einen doppelten Boden, nichts ist mehr sicher, niemand kann den eigenen Augen mehr trauen. Nichts ist, was es scheint. Wie furchtbar man sich täuschen kannl
Die Polizei fand bei Bernd später ein Notizbuch, in dem er 127 Frauennamen eingetragen hatte, die allermeisten davon hatte er aus der Zeittschrift. Bravo (Internet gab es damals noch nicht). Bernd sagte aus, dass er all diese Frauen nur aus einem einzigen Grund in sein Büchlein geschrieben habe: Er wolle sie alle töten, sobald er nur die Geligenheit dazu bekomme.
Bernd B. wurde dann sehr bekannt und nicht nur ein Fall für die Strafjustiz, sondern auch für die Medien. Am 18. Mai 1981 wurde er verhaftet, da war er schon über ein Jahr lang Lehrer in einer Schule. Wegen Mordes und frünffachen Mordversuchs sowie schweren Diebstahls wurde er am 3. Februar 1982 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe bei gleichzeidger Einweisung in die forensische Psychiatrie verurteilt.
Aufgewachsen ist Bernd B. in Verhältnissen, die man, aus der Ferne betrachtet, behütet nennen könnte. Vater leitender Angestellter, Mutter Näherin in einer Fabrik. Er hat zwei Brüder und Großeltern, die sich ebenfalls um ihn kümmern. Bei genauerer Berachtung allerdings ist sein wackerer Vater ein sehr grausamer Mann, der Bernd regelmäßig mit einer Peitsche züchtigt. AIs er den 16-jährigen (dessen Haar ihm zulang erscheint) zum Friseur zwingt und zum geschorenen Kurzhaarschnitt, rächt sich der Sohn, allerdings nicht am Vater sondern an einem zehnjährigen Jungen, dem er am selben Täg zufällig in einem Waldstück begegnet. Er zieht ein Messer und zwingt den Kleinen, sich vor ihm auszuziehen. Der will seine Unterhose anbehalten, darum schlägt Bernd ihm mit der Faust in den Bauch. Als derJunge ganz nackt ist, sticht er ihm mit dem Messer in den Oberschenkel. Dann lässt er das Kind laufen. Einige Stunden später wird Bernd B. von der Polizei festgenommen. Auf die Frage nach seinem Motiv anrwortet er: Er wollte seinen Frust loswerden. Er wollte jemandem wehtun.
Im Nachhinein wäre jetzt vielleicht eine Chance gewesen, sich dem in Bernd heranwachsenden Sadismus noch in den Weg zu stellen. Heute gelten solche devianten Täten für forensische Psychiater als hochgradig alarmierend. Die sexuelle Komponente der Tat war unübersehbar. Dergleichen weist auf eine schwere geistig-seelische Störung hin. Aber Bernd B. bekommt in seinem Jugendstrafverfahren am Ende nur
eine Ermahnung und ein paar Stunden Sozialarbeit aufgebrummt. Den Vorschlag, sich in psychologische Betreuung zu geben, lehnt er ohne Konsequenzen ab.
Von alldem weiß die Studentin Claudia Baumgart nichts. Etwa zu der Zeit, da ihr seine Intelligenz aufällt und sie von seiner Begeisterungsfähigkeit schwärmt, kauft er sich einen großen Hammer. Er beginnt nachts mit dem Auto langsam durch die Straßen zu streifen, er versucht in den Fenstern der Wohnungen Frauen zu entdecken, die er beim Auskleiden belauern kann. Und er überfällt Frauen, die ihm auf der Straße begegnen, mit dem Hammer schlägt er auf sie ein. In seinem umfassenden Geständnis wlrd Bernd B. später aussagen, dass folgende Fantasie immer dominanter wurde und schließlich ganz von ihm Besitz ergriff Er will Frauen erschlagen, sie ausziehen und vor den nackten Leichen onanieren.
Es ist das klassische „Jekyll und Mr. Hyde-Prinzip: Tags über ist B. ein engagierter Student und später auch Lehrer - und nachts in wahnsinnigen Autofahrten auf der Suche nach neuen Opfern. Gefasst wird er schließlich, weil ein zehnjähriges Mädchen schwer verletzt entkommen und ein Passant der Polizei den Täter und dessen Wagen beschreiben kann. Insgesamt fünf Überfälle auf Frauen können B. nachgewiesen
werden, plus der Mord an der Studentin. Er hat gestanden. Weitere Täten, die mit ihm in Verbindung gebracht wurden, kommentierte er in den Verhören mit den immer gleichen Worten: Er könne sich vorstellen, das getan zu haben, aber er wisse es nicht.
Für Claudia Baumgart und ihre Clique war es ein Schock, als sie ertuhren, wer Bernd B. wirklich war. Dazu kam für Claudia Baumgart noch eine weitere ziemlich unangenehme Erfahrung: Die Polizei in Wiesbaden bestellt sie als Zeugin ein. „Die Polizeibeamten wollten eine Art Ort-Zeit-Diagramm von Bernd erstellen, wo und wann er damals gewesen war um seine Täterschaft auch in anderen Fällen beweisen zu können. Sie fragten mich über Tage aus, die drei oder vier Jahre zurücklagen. Ich wusste vieles nicht mehr. Und es wurde ein regelrechtes Verhör. Sie gaben mir zu verstehen, dass sie glauben, ich würde ihnen was verheimlichen. Es war wirklich schrecklich.“
Der bekannte Mainzer Kriminalpsychiater Johann Glatzel bescheinigte dem Angeklagten im Strafprozess dann eine starke seelische Abartigkeit mit „polymorpher Perversion“ die aus den Komponenten Sadismus, Fetischismus und Voyeurismus zusammengesetzt sei. Seine perversion habe Suchtcharakter entwickelt, es sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass B. weitere Straftaten nach dem alten Muster begehen werde, sollte er jemals wieder in Freiheit gelangen. Es ist ein Gutachten, das ihn wohl für
immer hinter Gittern hält. Bis heute ist Bernd B. Eingesperrt. Es ist nicht zu erfahren, ob er jemals einen Antrag auf Entlassung gestellt hat. Die Behörden hüllen sich in Schweigen. Vielleicht ist er ganz erleichtert in der totalen Institution. Seinen Verteidiger hat er jedenfalls vor Jahren wissen lassen, dass er froh sei, „nichts mehr anstellen zu können“. Während der Untersuchungshaft soll er die Leitung der Gefängnisbibliothek übernommen haben., Die längst untergegangene Zeitschrift Quick zitierte ihn damals mit der Aufzählung seiner Lieblingsschriftsteller: „James Joyce, Charles Dickens, Max Frisch und Bert Brecht.“
Claudia Baumgart war 30 Jahre lang eine engagierte Lehrerin in Süddeutschland, vor Kurzem ist sie in Pension gegangen, betreut an ihrer Schule aber weiterhin verschiedene Projekte. Sie hat eine Familie und Kinder. Sie fährt gerne nach Südfrankreich. Einmal hat sie kurz überlegt, ob sie ihren alten Kommilitonen Bernd B. in der Psychiatrie soll. Doch den Gedanken hat sie schnell wieder verworfen.

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