Moin,
im 3. Teil der Reviewoldies gehts dann doch eher um eine Art "Newie" ( da erst 6 Jahre alt ). Der Draußenkind-Fall ist eines der Highlights der Nach-Grimm-Phase.
XY-Sendung 342 v. 18.01.2002 – FF1 – „Draußenkind“
Oder : Der grausame Tod des kleinen Tobias
Tiefster Schnee liegt an diesem 30.10.2000 in Weil im Schönbuch, einem kleinen Städtchen im Süden Deutschlands. Diese für das Aktenzeichen XY ...ungelöst der 90er und 2000er – Jahre typische Wetterkapriole ( Da sieht man mal, wohin der Treibhauseffekt die Welt getrieben hat ) ist jedoch nicht hinderlich für Tobias und seinen Bruder. Die beiden Jungen rennen mit Freude zur nahegelegenen Sparkasse, was ich als Kunde einer Direktbank natürlich nicht annähernd nachvollziehen kann. Schon gar nicht, als rauskommt, dass die beiden Kinder zum Weltspartag Geld auf ihr Sparbuch einzahlen wollen. Da werden also heutzutage schon kleine Jungens von der Sparkasse betuppt, indem sie sie mit billigsten Ramschgeschenken dazu verführen, ihr von der Oma wohlkassiertes Geld niedrigverzinst auf einem Sparbuch zu parken.
Nebenher ist die hier dargestellte Tresendame der Sparkasse auch noch ziemlich garstig, als die Jungen beim ( zugegebenermaßen stürmischen ) Eintritt in die Bank einen Prospektaufsteller umschmeißen. Eine anwesende Kundin gibt ihr jedoch Einhalt, indem sie darauf hinweist, dass das doch Kinder sind und sie in jungen Jahren selbst ein rechter Wildfang war. Stolz gibt sie zu, dass sie damals „mit voller Gewalt das Geschirr der Eltern hingeschmissen“ hat, „mit voller Absicht“.
Die böse Sparkassentante tangiert das nur sekundär und zeigt mit einem in verarschender Tonlage gesprochenen „Nee ?“, was sie von ihrer Kundin bzw. ihren Kunden hält. So kennen wir sie, die Leute von der Sparkasse.
Schlußendlich muss die Fleischereifachverkäuferin in Bankuniform jedoch gezwungenermaßen das Weltspartagsbilliggeschenk an Tobias rausrücken. Als 11jähriger freut man sich halt noch über Plastik-Fahrradpumpen. „Quicklebendiger Junge“, der er nun einmal ist, kann Tobias das Geschenk natürlich sofort anwenden, denn es ist der erste Ferientag. Da fährt man auch schonmal bei tiefstem Schnee Fahrrad. Kurzfristig scheint jedoch die Mutter des Jungen dem einen Strich durch die Rechnung machen zu wollen, indem sie die beiden Brüder zum Autowaschen bei Minusgraden verführen will. Was der Ältere der Beiden sowohl kommentarlos als auch rigoros ignoriert, kontert der kleinere Tobias mit der ihm eigenen Logik, der auch die Mutter nichts entgegenzusetzen hat : „Nicht am ersten Ferientag. Ich muss auch noch die Pumpe ausprobieren.“
Die von ihm geplante Fahrt zu einem nahegelegenen Weiher darf er jedoch nicht ohne Fahrradhelm bestreiten. Soweit kann sich die Mutter dann doch noch durchsetzen. Aber auch nicht weiter, denn, so erfahren wir von der zweitmalig als Sprecherin, aber etliche Male als Schauspielerin eingesetzten Christiane Blumhoff, „Tobias ist ein Draußenkind. Er muss sich bewegen.“ Ehrlich gesagt, wenn der Nachsatz hier nicht gekommen wäre, hätte ich nicht gewußt, was Frau Blumhoff mit „Draußenkind“ wirklich meint. Wortschöpfungen dieser Art gibt’s nur bei XY. Darum liebe ich diese Sendung so.
So scheint also Tobias das genaue Gegenteil seines Bruders zu sein, denn der fährt lieber zum Computerspielen, ist also ein „Drinnenkind“, der jedoch, um zu seinem Freund zu kommen, ebenfalls mit dem Fahrrad fährt, zeitweilig also auch zumindest zwangsweise ein „Draußenkind“ ist.
Geerbt haben das Beide scheinbar von ihrer Mutter, die ja sogar bei Schnee und Eis gerne autowäscht, also quasi „Draußenmutti“ ist. Tobias jedenfalls strolcht gerne über abgelegenes Gelände, so auch an diesem Tag.
Auf seinem mühsamen, da tiefverschneiten Radweg Richtung Weiher trifft er ein paar seiner Kumpel, die jedoch nicht seinem Vorschlag folgen wollen, dort ein „Lägerle“ zu bauen. Dieser kurze Drift Richtung schwäbische Mundart überrascht hier ein wenig, ist Tobias in diesem Filmfall nicht nur ein „Draußenkind“ sondern auch, außer bei dieser Ausnahme, ein „Schriftdeutschjunge“. Seiner Bestimmung als DK ( = Draußenkind ) folgend ( „That´s just the way he is“ ), lässt er sich auch nicht durch diese ablehnende Haltung seiner Freunde beeinflussen und setzt seinen Schneeweg über die Drachenwiese, einem Spielgelände Weil im Schönbuchs, Richtung Weiher fort.
Es folgt ein hier fast wortwörtlich wiedergegebener, traumhafter Sprechertext Christiane Blumhoffs, der von Regisseur Thomas Pauli atmosphärisch dicht mit Bildern hinterlegt und mit sphärischen Klängen, die von „HuHaaaHaHuhuuuHaHuuu“-singenden Engelsstimmen in Twin-Peaks-Manier begleitet werden, untermalt ist : Tobias hat, wie andere Jungen seines Alters auch, kleine Geheimnisse. Im Wald hat er ein Versteck für Dinge, die man zum Spielen einfach braucht ( Anm. d. Verfassers : Hier wird der Zuschauer z.T. im Unklaren gelassen, welche Dinge dies sind. Playstation, Handy oder Fussballbildersammelalbum jedenfalls nicht. ). Obwohl Tobias immer in Bewegung ist, gibt es doch Momente, in denen er die Stille sucht ( Engelsstimmen singen „HuHaaaHaHuhuuuHaHuuu“ ). Da Montags am Weiher nie was los ist, drücken die Capri... ähm Karpfenfischer, die hier auch eine Fischerhütte stehen haben, beide Augen zu, wenn Tobias mit seinem dicken Stock mit Leine per Maisköder Fische zu angeln versucht ( Grund der Augenzudrückerei : Es ist nach dieser Angel-Methodik wahrscheinlich immer beim Versuch geblieben, was zu fangen ).
Zwischen dieser ganzen, atmosphärisch dichten Szene nähert sich ein Van dem Wald, mit bösen Vorahnungen in den Augen von Tobias Kumpels beobachtet. Ob der sich nun verfahren hat oder Richtung Weiher will, who knows. Regisseur Pauli jedenfalls zeigt auch nach dieser Szene, dass jemand ohne den Namen Kurt Grimm auf völlig andere Weise einen XY-Filmfall gestalten kann. Eine Überblendung auf ein in Zeitlupe fliegendes Blatt lässt dem Zuschauer eigene Interpretationsmöglichkeiten, was sich denn nun im verschwommenen Hintergrund abgespielt haben könnte.
19:30 Uhr macht sich die „Draußenmutti“ am XY-Abendbrottisch ( Stullen in der Küche ) größere Sorgen, da Tobias bisher nicht nach Hause gekommen ist und telefoniert eine Freundin an, um ihr Leid zu klagen. Der im Telefongespräch fallende Satz „Das gibt’s doch gar nicht“ ( In der Rangliste der meistgenutzten Dialogsätze in XY auf Platz 2 ) sagt eher das aus, was der in der Rangliste auf Platz 1 stehende Satz aussagt : „Da muss was passiert sein“. Das meint auch der hereinschneiende Vater des Jungen, der sich sofort Richtung Weiher aufmacht.
In dieser 2-minütigen Suchszene spielt Regisseur Pauli noch einmal sein ganzes Können aus, indem er meisterlich auf der Gefühlsklaviatur spielt. Hoffnung, Bangen und Entsetzen des Vaters wird in dieser kurzen, aber beeindruckenden Sequenz kongenial filmisch umgesetzt. Bei der Ankunft am Weiher besteht noch das berühmte Fünkchen Hoffnung des Vaters, Tobias unversehrt aufzufinden. Als er jedoch Fahrrad und Angel des Jungen verlassen auffindet, wandeln sich seine Gefühle in intensives Bangen, was auch durch seine verzweifelnden „Tobias“-Rufe am Steg des Gewässers unterstrichen wird. Als er dann mit der von ihm herbeigerufenen Polizei Tobias Leiche hinter der Fischerhütte auffindet, ist das Entsetzen perfekt. Ebenso beim Zuschauer, dem zusätzlich durch Frau Blumhoff folgender Sprechersatz „um die Ohren gehauen“ wird : „Tobias ist auf grausame Weise erstochen worden“.
Epilog :
Christiane Blumhoff teilt uns mit, dass der Fall ( verständlicherweise ) die Öffentlichkeit bis heute beunruhigt. Ein Tatverdächtiger wurde verhaftet aber kurz darauf wieder freigelassen, da sein genetischer Fingerabdruck nicht mit den am Tatort gefundenen Spuren übereinstimmte. Weiterhin wurden 12.000 Personen überprüft : Alles Negativ.
Der Fall schließt mit einem bei XY-Fällen schon mehrfach zu beobachtenden Unbekannten, der sich nach Tobias Grab erkundigt.
Der „Draußenkind“-Fall ist für einen langjährigen XY-Fan bzw. –Zuschauer im Rückblick eine schmerzhafte Erfahrung. Schmerzhaft deshalb, weil dieser Filmfall auf eine hoffnungsfrohe Zukunft der Sendung Aktenzeichen XY ...ungelöst hindeutete. Mit dem neuen Moderator Rudi Cerne und insbesondere mit diesem Fall wurde ein qualitativ hochwertiges Zeichen gesetzt und gezeigt, wie die „angestaubte“ alte Tante XY rundüberholt und geliftet wie die Patienten in „Nip/Tuck“ mit neuem Schwung eine neue Ära hätte beginnen können. Leider bliebs beim „hätte ... können“ denn, überspitzt gesprochen mit Hildegard Knef, „...von nun an gings bergab.“ Denn irgendwer irgendwo beim ZDF ( oder sonstwo ) entschied , bei XY mehr die Schiene „Sensationsgier“ denn die Schiene „Operschicksal“ zu fahren. Außerdem ist Betacam billiger als Rückwärts-Slo-Mo.
Die arme Eisprinzessin Rudi ( sorry für den Spitznamen ) konnte da am wenigsten für. Ich für meinen Teil halte ihn nach wie vor für einen guten Moderator der Sendung. Leider liessen ihn seine Hinterleute im Stich. Hier in dieser Sendung jedoch noch nicht. Der „Draußenkind“-Fall ist für mich mit der herausragendste Fall des „New Millenium“, mit einer „Kurt Grimm meets David Lynch“-mäßigen, filmischen Umsetzung und dem neuen, doch schon mit dieser Sendung wieder am Himmel verblassenden Sprecher-Stern Christiane Blumhoff. Und um am Himmelszelt zu bleiben : „Draußenkind“ ist eine Art letztes, heftiges Pulsieren eines ehemals hellen Sterns der ZDF-Galaxie namens XY, der kurz darauf heftigst explodierte und in einem schwarzen Loch endete.